Michael Graff

Diskussion

Das Schweizer System der Altersvorsorge
20.04.2023   |   Der Text beschreibt die Entstehung und die Funktionsweise des Schweizer Systems der finanziellen Altersvorsorge. Dabei wird eine detaillierte Analyse der offenen und versteckten Verteilungswirkungen durch die einzelnen Systemelemente geliefert, und es wird auf die aktuelle Reform der AHV und die Reformvorschläge für die berufliche Vorsorge aus bürgerlicher und linker Perspektive eingegangen.

Einführung

Am 25. September 2022 wurde entschieden, das AHV-Rentenalter der Frauen von 64 auf 65 Jahre zu erhöhen, und am 17. März 2023 haben sich die Eidgenössischen Räte eine Reform der beruflichen Vorsorge geeinigt, deren Kern eine Senkung des Umwandlungssatz von 6,8% auf 6,0% ist. Es ist bereits jetzt klar, dass dagegen das Referendum ergreifen wird. Das letzte Wort hat also die Mehrheit derjenigen Stimmberechtigten, die sich an der Abstimmung beteiligen werden. Das System der finanziellen Altersvorsorge in der Schweiz wird also noch länger für Diskussionen sorgen. Es ist daher angezeigt, die Entstehung, die Funktionsweise der hiesigen Altersvorsorge näher zu betrachten.1
Die finanzielle Altersvorsorge in der Schweiz ist ein historisch gewachsenes System. Erste gewichtige Forderungen nach einer staatlichen Altersvorsorge wurden unmittelbar nach Ende des Ersten Weltkriegs beim Landessstreik im November 1918 erhoben, aber die Einführung einer – noch sehr rudimentären – Altersvorsorge erfolgte erst nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Das System ist mittlerweile weit umfassender und komplexer als zu Beginn und wurde wiederholt an die sich verändernden demographischen und sozio-ökonomischen Rahmenbedingungen angepasst.
Es war ursprünglich an der Lebenswelt der Familie mit einem männlichen Alleinverdiener ausgerichtet, dessen Einkommen für die Ehefrau und Kinder, gegeben die sozial akzeptierten Standards, ausreichte. Ein eigenes Alterseinkommen für Frauen wurde dabei in erster Linie als Witwenrente für notwendig gehalten. Mit der faktischen und zunehmend auch normativen Erosion der traditionellen Kleinfamilie seit den 1970er Jahren wurde das überkommene System zunehmend dysfunktional. Die Rolle der Frau als Hüterin des Haushalts und der Kinder begann sich aufzulösen, auch wenn das akzeptierte Rollenverständnis der Realität lange hinterherhinkte (und es in traditionell gesinnten Kreisen immer noch nachwirkt).
Zudem begann mit dem veränderten Reproduktionsverhalten eine demographische Transition, deren Auswirkung auf das Verhältnis der Kohorten im erwerbsfähigen Alter relativ zu denen im Pensionsalter sich in der nahen Zukunft am stärksten bemerkbar machen wird. Die Fertilitätsrate in der Schweiz begann in den 1960er Jahren schnell zu sinken, lag 1970 gerade noch auf dem bestandserhaltenden Wert von 2,1, Mitte der 1970er Jahre bereits bei nur 1,5, und um diesen Wert schwankt sie seitdem ohne erkennbaren Trend. Hinzu kommt, dass mit der steigenden Lebenserwartung die Ruhestandsphase länger wurde. Der Trend kann zwar nicht einfach extrapoliert werden, da sich die Lebenserwartung asymptotisch einem biologisch determinierten Maximum nähren könnte, doch für die nächsten Jahrzehnte können für einen wachsenden Anteil der Schweizer Bevölkerung viele Jahre des Ruhestands erwartet werden, denn die geburtenstarken Nachkriegskohorten sind mittlerweile pensioniert oder stehen kurz davor, und sie erfreuen sich einer höheren Lebenserwartung als alle Kohorten zuvor.
Das Entwicklung des Verhältnisses der Personen im erwerbsfähigen Alter relativ zu den im pensionierten ist eine der Schlüsselgrössen für die Finanzierung der Altersversorgung. Diese muss allerdings in Verbindung mit der Entwicklung der Arbeitsproduktivität betrachtet werden, und letztere entwickelt sich unter Ausklammerung konjunktureller Effekte stetig nach oben. Gemäss Angaben des Bundesamtes für Statistik ist die Steigerung der Arbeitsproduktivität in der Schweiz über die letzten 30 Jahre in der Tat beträchtlich gewesen: Die Arbeitsproduktivität pro Arbeitsstunde nahm von 1991 bis 2021 real um über 40% zu.2 Damit kann durch die Erwerbstätigen im Zeitablauf das Einkommen einer zunehmenden Anzahl von Pensionierten finanziert werden. Auch hier kann man nicht einfach den Trend fortschreiben, aber solange die erwartete Zunahme des Verhältnisses von Erwerbspersonen zu Pensionierten diejenige der Arbeitsproduktivität nicht übertrifft, haben umlage- oder steuerfinanzierte Alterssicherungssysteme keine langfristigen Finanzierungsprobleme.
Hinzu kommt, dass bei Systemelementen, die auf Kapitaldeckung beruhen, die Anlagerendite eine weitere Schlüsselgrösse für die Finanzierung der Ruhestandseinkommen ist. Dies ist für die Schweiz höchst relevant, denn der Ausbau der hiesigen Altersversorgung in Form der sogenannten “zweiten Säule” hat seit Mitte der 1980er Jahren die Finanzierung immer stärker von den Kapitalmärkten abhängig gemacht. Nachdem die Finanzmärkte mit der Grossen Rezession von 2008/9 eingebrochen sind und insgesamt verlässlich hohe positive Renditen der Vergangenheit angehören, haben sich die bei der Einführung der zweiten Säule versprochenen Renditen als Illusionen erwiesen.
Da das System der Schweizer Altersvorsorge über Jahrzehnte hinweg entstanden und ausgebaut wurde, gibt es Pfadabhängigkeiten, die bei realpolitischen Änderungsvorschlägen zu berücksichtigen sind. Die Frage, in welche Richtung sich das Schweizer Alterssicherungssystem angesichts der veränderten Rahmenbedingung bewegen kann und soll, ist natürlich in hohem Masse politisch. Umstritten ist dabei im Kern die Frage, inwieweit innerhalb der Alterssicherungssysteme Umverteilung stattfinden soll. Im jetzigen System wird durch die AHV in der Ruhestandsphase die Einkommensungleichheit der Erwerbsphase reduziert, während die durch die berufliche Vorsorge und das Sparen in der dritten Säule fortgeschrieben wird. Die bürgerliche Seite positioniert sich entsprechend gegen einen Ausbau der AHV, während die Linke genau dies fordert, und bei der beruflichen Vorsorge beharren die Bürgerlichen auf dem Prinzip, dass jedeR für sich selbst sparen soll, während die Linke dafür eintritt, dass Personen, die während der Erwerbsphase wenig versicherungspflichtiges Einkommen hatten oder unentgeltliche Erziehungs- oder Betreuungsarbeit geleistet haben, durch Querfinanzierung innerhalb der zweiten Säule oder Subventionen aus Steuermitteln bessergestellt werden.3

Entstehung und Status quo

Das Schweizer System der Altersvorsorge besteht dem hiesigen Selbstverständnis zufolge aus drei sogenannten “Säulen”.
Die erste Säule ist die umlagefinanzierte Alters- und Hinterlassenenversicherung (AHV), die 1948 eingeführt wurde. Diese Säule soll die Grundversorgung für den Lebensunterhalt abdecken, was aber von Beginn an verhindert wurde, denn die Pensionskassen und die Finanzindustrie hätten bei wirklich existenzsichernden AHV-Renten die Grundlage für das einträgliche Geschäft der Verwaltung und Anlage von privaten Vorsorgegeldern verloren und lobbyierten massiv und erfolgreich dagegen.
Die Beiträge belaufen sich derzeit auf 8,7 % des Lohns,4 5,4% bis 10,0 % (progressiv) des Einkommens für Selbstständige und 514 CHF bis 25’700 CHF pro Jahr für beitragspflichtige nicht erwerbstätige Erwerbspersonen. Der Bund beteiligt sich mit rund 20% an den Kosten der AHV. Die Altersrenten liegen zwischen 14’700 und 29’400 CHF pro Jahr für Einzelpersonen. Für Ehepaare ist die Summe auf 44’100 CHF begrenzt. Diese Beträge erreicht man aber nur, wenn ab dem Alter von 20 Jahren bis zum Erreichen des ordentlichen Rentenalters jährlich Beiträge geleistet wurden. Für die Maximalrente ist ein Einkommen von durchschnittlich 85’000 CHF pro Jahr über 45 Jahre erforderlich. Versäumte Jahre führen zu einer Kürzung pro rata. Witwen-, Waisen- und Kinderrenten ergänzen, wenn darauf Ansprüche bestehen, die normalen AHV-Leistungen.
Ungekürzte AHV-Renten gibt es für Männer mit 65 Jahren, für Frauen derzeit noch mit 64 Jahren. Das AHV-Rentenalter für Frauen wurde aber mit der letzten Reform im Jahr auf 65 heraufgesetzt, mit partiellen Kompensationen für die ersten von der Änderung betroffenen Kohorten. Im September 2022 wurde dies mit knapper Mehrheit in einer Referendumsabstimmung gebilligt. Die Änderungen werden am 1. Januar 2024 in Kraft treten.
Bei der Einführung der AHV war diese nicht als “erste Säule” gedacht gewesen. Die Altersrenten waren zwar niedrig bemessen, aber für den Rest sollte wie zuvor privat gesorgt werden, sei es durch private Lebensversicherungen, berufliche Pensionskassen oder Unterstützung durch Verwandte. Das “Drei-Säulen-System” entstand als Konzept erst als Reaktion auf die Volksinitiative der Partei der Arbeit (PdA) “für eine wirkliche Volkspension” von 1969, welche die AHV und die bestehenden privaten Vorsorgeeinrichtungen in eine einheitliche und existenzsichernde Pension für alle überführen wollte. Im Initiativtext hiess es: “Die ausbezahlten Renten entsprechen 60% des mittleren Jahreseinkommens der fünf günstigsten Jahre, dürfen aber monatlich nicht weniger als Fr. 500.– für Einzelpersonen und Fr. 800.– für Ehepaare und nicht mehr als das Doppelte dieser Summen betragen. Diese Beträge wie alle Renten werden ab 1. Januar 1970 periodisch der Erhöhung der Lebenskosten und des Bruttosozialproduktes angepasst.”
Das hätte für den Finanzsektor das Ende des einträglichen Geschäfts mit der privaten Altersvorsorge eingeleitet. Dieser wehrte sich entsprechend, im Schulterschluss mit allen übrigen Parteien inkl. der Sozialdemokratischen Partei (SP) und den meisten Gewerkschaften. Abgesehen davon, dass ein Vorstoss der (kommunistischen) PdA in Richtung Sozialisierung der Altersvorsorge während des Kalten Krieges in der Schweiz ohnehin einen schweren Stand gehabt hätte, sah sich die Regierung genötigt, als Alternative die Mitgliedschaft in einer Pensionskasse obligatorisch zu machen, da die erste Säule von Anfang an nicht ausgereicht hatte, einen angemessenen Lebensstandard zu gewährleisten, und darüber hinaus das private Vorsorgesparen zu fördern. Zudem sollten die bis dahin äusserst geringen AHV-Renten deutlich erhöht werden und zusammen mit der AHV laut Verfassungsauftrag die “Fortsetzung der normalen Lebenserhaltung in angemessener Weise” ermöglichen, worunter im politischen Diskurs durchweg 60% des Einkommens vor der Pensionierung verstanden wurde. Damit war das “Drei-Säulen-System” mehrheitsfähig, und die PdA-Initiative wurde in der Volksabstimmung 1972 mit fast 85% Gegenstimmen verworfen.
Die zweite Säule, die berufliche Vorsorge, wurde nach langem Vorlauf mit Inkrafttreten des Bundesgesetzes vom 25. Juni 1982 über die berufliche Alters-, Hinterlassenen- und Invalidenvorsorge (BVG) 1985 eingeführt, Damit wurde aus der bislang freiwilligen Mitgliedschaft in zumeist betrieblichen Pensionskassen ein System des Zwangssparens. Die zweite Säule, so die erklärte Absicht, ergänzt die AHV, um der versicherten Person zu ermöglichen, ihre bisherige Lebensführung in angemessener Weise beizubehalten. Die zweite Säule ist für alle Erwerbstätigen obligatorisch, für Selbständigerwerbende freiwillig. Sie erfasst im obligatorischen Teil das Einkommen, das über den so genannten Koordinationsabzug von 7/8 der maximalen AHV-Rente hinausgeht. Dieser Abzug beträgt derzeit 25’725 CHF pro Jahr. Der maximale BVG-Lohn ist 88’200 CHF, dem BGV unterliegt also maximal ein versicherter Lohn in Höhe von 62’475 CHF. Der Gesetzgeber legt die Mindestbeiträge fest. Sie liegen derzeit bei 7% für Personen im Alter von 25 Jahren, wenn die Beitragspflicht zur zweiten Säule beginnt; sie steigen mit 35 Jahren auf 10%, mit 45 Jahren auf 15% und mit 55 Jahren auf 18%. Die Pensionskassen können jedoch höhere Beitragssätze festlegen und tun dies auch häufig. Die Anlage der Gelder unterliegt Vorschriften, um übermässige Risiken zu vermeiden. Die angesammelten Ersparnisse werden zusammen mit den Zinseszinserträgen (oder -verlusten) bei Eintritt in den Ruhestand verfügbar, entweder als lebenslange Rente (Pension), was die Standardoption ist, oder als einmalige Auszahlung, welche die Pensionsfonds für mindestens ein Viertel des Guthabens erlauben müssen. Viele Pensionsfonds bieten jedoch höhere Auszahlungen an, wobei 100% keine Seltenheit sind. Vorbezüge vor der Pensionierung sind möglich für den Erwerb von selbst genutztem Wohneigentum oder für die Gründung eines Unternehmens. Der gesetzliche Umwandlungssatz von derzeit 6,8 %, multipliziert mit dem bei der Pensionierung nicht bezogenen Teil des Guthabens, ergibt die jährliche Rente. Versicherungsmathematisch ist die BVG-Rente eine “Annuität”, also eine lebenslange Zahlung an die Pensionierten in gleicherbleibender Höhe. Anhand von Sterbetafeln und geschätzten Renditen über die Dauer der Rentenbezüge ergibt sich der aktuarisch (versicherungsmathematisch) korrekte Umwandlungssatz, bei dem die Kassen weder Gewinne noch Verluste machen. Das Langlebigkeitsrisiko tragen dabei die Kassen; wenn dagegen eine versicherte Person kurz nach der Verrentung stirbt, fällt der kumulierte Rentenbezug vergleichsweise gering aus.
Das Schweizer System entspricht aber nicht exakt einer solchen Annuitisierung von Ersparnissen (Umwandlung eines Vermögens in ein lebenslanges Einkommen), da die Zahlungen nach dem Tod der versicherten Person nicht in jedem Fall eingestellt werden, und zwar genau dann nicht, wenn es überlebende Ehepartner oder Kinder unter 25 Jahren in Ausbildung gibt, wofür die Kassen von allen Versicherten Risikobeiträge erheben. Die gesetzliche Witwer-/Witwenrente beträgt 60% der Rente der verstorbenen Person, die Waisenrente 20%.
Der gesetzliche Umwandlungssatz gilt für den Betrag des maximalen BVG-Lohns abzüglich des Koordinationsabzugs, also derzeit für 62’475 CHF. Lohnbestandteile über 88’200 CHF sind “überobligatorisch”, und es steht den Pensionskassen frei, für darüber hinausgehende Guthaben niedrigere Umwandlungssätze anzuwenden. Bei höheren Renten ist dies seit längerem die Regel, viele Kassen machen eine Mischrechnung, bei der im Ergebnis für das gesamte Vorsorgeguthaben bei der Pensionierung ein Umwandungssatz von rund 5% resultiert. Um den gesetzlichen Vorschriften Genüge zu tun, kann die Rente rechnerisch zerlegt werden in einen Teil, der auf dem obligatorischen Guthaben beruht und mit 6,8% umgewandelt wird, und in einen zweiten, der aus dem überobligatorischen Teil resultiert, mit Umwandlungssätzen von deutlich unter 5%, je nach individueller Situation. Bindend ist der gesetzliche Umwandlungssatz also nur bei Versicherten ohne “Überobligatorium”; das sind aktuell gut 30% aller BVG-Versicherten.
Hinzuzufügen ist, dass die Unterschiede zwischen den Pensionskassen für Witwen/Witwer, Kinder, Vorbezug von Teilen des Guthabens und Kapitalbezug bei der Pensionierung, Frühpensionierung und Aufschub, sowie beim Umwandlungssatz für Einkommen, die über der Grenze liegen, für die der gesetzliche Umwandlungssatz gilt, beträchtlich sind. Dies ist aufgrund der grossen Autonomie, welche der Gesetzgeber den Kassen einräumt, politisch so gewollt, hat aber zur Folge, dass die Versicherten, da sie sich ihre Pensionskasse nicht selbst aussuchen können, je nach Vorsorgeeinrichtung, die für die Arbeitsstelle zuständig ist, mit unterschiedlichen Regelungen konfrontiert sind, wodurch aus den gleichen Beitragszahlungen massiv unterschiedliche Alters-, Witwen und Waisenrenten resultieren können.
Das offiziell verkündete, aber wohlweislich nicht gesetzlich festgelegte Ziel bei der Entstehung des BVG war, dass die ersten beiden Säulen zusammen etwa 60% des Erwerbseinkommens ersetzen sollten. Angesichts der Komplexität des Systems und der Tatsache, dass es von einem traditionellen Arbeitsleben ohne Teilzeitbeschäftigung, Unterbrechungen, Auslandsaufenthalte, usw. ausgeht, weicht die individuelle finanzielle Situation nach der Pensionierung von diesem Ziel häufig erheblich nach unten ab, aber auch mit einer “normalen” Erwerbsbiographie ist eine Ersatzquote von 60% mittlerweile häufig nicht mehr zu erreichen: Die durchschnittliche Lohnersatzquote durch AHV und BVG zusammengenommen liegt aktuell unter 55%, wobei die Männer mit 62% deutlich besser dastehen als die Frauen mit 51%.5
Freiwilliges Sparen, bezeichnet als dritte Säule, ergänzt dem herrschenden Diskurs zufolge das System. Seit 1972 bietet die sogenannte Säule 3a steuerliche Abzugsfähigkeit für Beiträge auf Sperrkonten, die frühestens fünf Jahre vor dem offiziellen Pensionierungsalter zugänglich werden. Der jährliche Höchstbetrag, der steuerlich abzugsfähig ist, beträgt derzeit 7’056 CHF für Personen, die der zweiten Säule angehören, und 20% des Einkommens für Personen, die nicht der zweiten Säule angehören, bis zu einem Höchstbetrag von jährlich 35’280 CHF. Die Säule 3a setzt Anreize für das private Sparen durch Steuererleichterungen, da die Auszahlungen getrennt vom Einkommen zu deutlich unter denen der Einkommenssteuer liegenden Sätzen besteuert werden. Rückzüge aus 3a-Konten sind gleich geregelt wie Auszahlungen aus der zweiten Säule. Für den Vorbezug gelten die gleichen Ausnahmen. Alle Auszahlungen aus den beiden Säulen in einem Kalenderjahr werden zusammen besteuert. Eine Annuitisierung von 3a-Geldern ist nicht vorgesehen. Nach der Auszahlung muss die versicherte Person selbst entscheiden, was sie mit dem Sparkapital anfangen möchte.
Den Maximalbetrag zahlen nur etwa 10% der Berechtigten ein, und rund ein Drittel der leistet überhaupt keine Beiträge an die Säule 3a. Die Beteiligung steigt mit dem Einkommen: Ärmere Personen haben weniger Spielraum für freiwillige Ersparnisse, und ihre Grenzsteuersätze auf ihr Einkommen sind niedriger, so dass die lebenslange Steuerermässigung aus der Säule 3a geringer ausfällt als bei Beziehern höherer Einkommen; sie kann sogar negativ ausfallen, da die Auszahlungen ohne Berücksichtigung des übrigen Einkommens besteuert werden.
Freiwilliges Sparen, das über die Maximalbeträge hinausgeht, die sogenannte Säule 3b, ist völlig unreguliert und impliziert weder steuerliche noch sonstige Vor- oder Nachteile. Die Säule 3b ist praktisch eine blosse Ermahnung, sich nicht auf ein bedarfsdeckendes Alterseinkommen aus AHV, BVG und Säule 3a zu verlassen. Dass sie trotzdem als Systemelement bezeichnet wird, weist hin auf den hohen rhetorischen Stellenwert der “Eigenverantwortung” im Schweizer Alterssicherungssystem. Wer es sich leisten kann, möge mehr für das Alter sparen als durch Pensionskasse erzwungen und in der Säule 3a durch steuerliche Anreize gefördert.
Die Ergänzungsleistungen werden im offiziellen Diskurs nicht zu den Säulen der Schweizer Alterssicherung gezählt; im Unterschied zu den Säulen 3a und 3b sind sie aber insbesondere für wirtschaftlich Schlechtergestellte von grosser Bedeutung. Sie wurden bereits 1966 eingeführt, also noch vor der PdA-Initiative, welche den Anstoss zum Konzipierung des Drei-Säulen-System gab. Sie sollen sicherstellen, dass BezieherInnen von geringen Invaliden- oder AHV-Renten nicht auf Sozialhilfe angewiesen sind, welche als stigmatisierend empfunden und daher häufig, trotz bestehender Ansprüche darauf, nicht beantragt wird. Seit der Revision des Ausländer- und Integrationsgesetzes von 2019 kommt hinzu, dass Menschen ohne Schweizer Staatsangehörigkeit, ungeachtet dessen, wie lange sie bereits in der Schweiz leben, mit dem Bezug von Sozialhilfe in Gefahr geraten, die Aufenthalts- oder Niederlassungsbewilligung zu verlieren und ausgeschafft zu werden.
Die Höhe der Ergänzungsleitungen ist die Differenz zwischen “anerkannten Ausgaben” und Einnahmen. Ergänzungsleistungen werden entrichtet ohne ausländerrechtliche Konsequenzen oder Sanktionen für mangelnde Bemühungen, selbst ein existenzsicherndes Einkommen zu erzielen. Zudem sind die “anerkannten Ausgaben” mit 20’100 CHF für Alleinstehende und 30’150 CHF für Paare deutlich höher als die von der Schweizerischen Konferenz für Sozialhilfe (SKOS) empfohlenen Regelsätze von 12’372 CHF für Alleinstehende und 18’924 CHF für Zweipersonenhaushalte (für das Jahr 2023; hinzu kommen in beiden Fällen Wohnkosten und Krankenversicherungsprämien). Die Ergänzungsleistungen sind also ein bedingungsloses Residualeinkommen für aufgrund von Arbeitsunfähigkeit (IV) oder Alter dauerhaft aus dem Erwerbsleben ausgeschiedene Personen. Sie ergänzen das Gesamteinkommen aus IV-, AHV- und BVG-Renten und weiteren Einkommensquellen, sowie ein rechnerisches Einkommen aus etwaig vorhandenem Vermögen bis zum existenzsichernden Einkommen, mit dem die “anerkannten Ausgaben” bestritten werden können. Erst mit Einführung der Ergänzungsleistungen wurde also das normative – verfassungsmässig garantierte – Recht auf Existenzsicherung auch faktisch abgesichert. Die Nichtbezugsquote liegt bei den Ergänzungsleistungen allerdings bei knapp 30% und ist damit ähnlich hoch wie die (geschätzte) Nichtbezugsquote bei der Sozialhilfe. Da in beiden Fällen die Anspruchsberechtigten tendenziell eher aus bildungsfernen Schichten stammen oder als Zugewanderte die Amtssprache nur unzureichend beherrschen, dürften für viele die Hürden der Antragstellung zu hoch sein, sofern überhaupt Kenntnis über die Ansprüche bestehen.
Im Zusammenhang mit den ersten beiden Säulen ist wichtig, dass sowohl AHV-als auch Pensionskassenrenten auf den Bedarf auf Ergänzungsleistungen angerechnet werden. Renten aus der beruflichen Vorsorge, die zusammen mit AHV oder IV-Renten und sonstigen Einkünften die “anerkannten Ausgaben” nicht überschreiten, bleiben per Saldo für das Alterseinkommen wirkungslos, da sich die Ergänzungsleistungen in gleicher Höhe verringern.6

Einschätzung des jetzigen Systems

Seit Jahrzehnten wird diskutiert, ob vollständig kapitalgedeckte private Sparmodelle oder umlagefinanzierte Systeme, die durch Steuern, Beiträge der Erwerbstätigen oder ausschliesslich von Arbeitnehmern finanziert werden, besser geeignet sind, die anstehenden Herausforderungen zu bewältigen. Obwohl es bisher keine allgemein akzeptierte wissenschaftliche Antwort darauf gibt, da die Einschätzung von Werturteilen über das richtige Mass an Umverteilung abhängt, hat sich die politische Mehrheitsmeinung zunehmend zugunsten kapitalgedeckter Systeme positioniert. Wo nun steuerfinanzierte oder umlagefinanzierte Alterseinkünfte unzureichend sind oder gekürzt werden, wird Vorsorgesparen zu einer notwendigen Ergänzung oder zu einem Ersatz für erstere. Auch die Schweiz gehört seit 1985 zu den Ländern, die auf eine Kombination aus steuer-, umlagefinanziertem und kapitalgedecktem System setzen.
Mit der Ablehnung der PdA-Initiative der Partei der Arbeit “für eine wirkliche Volkspension” im Jahr 1972 wurde damals die wohl einmalige Chance verpasst, in der Schweiz eine existenzsichernde Altersversorgung für die gesamte Bevölkerung einzuführen, die nicht mehrheitlich privatwirtschaftlich betrieben und den Launen der Finanzmärkte ausgesetzt ist. Die AVH war institutionell etabliert, die Abdeckung durch Pensionskassen im Vergleich zu heute rudimentär, die Vorstellung, dass privates Sparen auf Sperrkonten die Steuerrechnung – insbesondere für Haushalte mit höheren Einkommen – senken müsse, noch neu. Dass sich grosse Teile der Schweizer Linken dem damals anschlossen, ist ihre vielleicht grösste sozialpolitische Fehlentscheidung des 20. Jahrhunderts. Wenn sich SP und Gewerkschaften heute wieder für einen Ausbau der AHV einsetzen, haben sie mit wirtschaftlichen, politischen und mentalen Pfadabhängigkeiten zu hadern, die es vor 50 Jahren in dieser Form noch nicht gab. Am gewichtigsten ist dies bei der beruflichen Vorsorge: Im Jahr 2021 betrug die Summer der Pensionskassengelder 1’200 Mrd. CHF, 1985, bei Inkrafttreten des BVG, waren es nur 150 Mrd. CHF gewesen – das entsprach damals rund 55% des BIP, heute sind es über 165%. Diese Anlagen abzuwickeln, ohne einen gewaltigen Finanzmarktcrash auszulösen, ist also heute um ein Vielfaches schwieriger als vor 50 Jahren. Zudem können sich die individuell sehr unterschiedlichen Rentenansprüche an die zweite Säule mit ihrer Überführung in eine Volkspension nicht einfach in Luft auflösen, ohne die Legitimität einer solchen Reform zu untergraben.
Neben der Pfadabhängigkeit, die es schwer macht, das jetzige System der Schweizer Altersversorgung grundsätzlich umzugestalten, haben die Bürgerlichen in den letzten Jahrzehnten auf der mentalen Ebene eine schwer zu erschütternde Deutungshoheit gewonnen. Im politischen Diskurs um die Ausrichtung möglicher Reformen erklären es die ApologetInnen des Drei-Säulen-Systems für wesentlich, dass die erste und die zweiten Säule verschiedene Funktionen hätten, die strikt getrennt bleiben müssten, und obwohl dafür keine stichhaltige Begründung gegeben wird, bleibt dies weitgehend unwidersprochen. Umverteilung von Reich zu Arm soll auf die umlagefinanzierte erste Säule beschränkt bleiben; dass sie stattfindet, wird von der Linken hochgehalten, von den Bürgerlichen eher zähneknirschend akzeptiert. In der zweiten und dritten Säule solle aber jedeR für sich selbst. Davon abzuweichen sei “systemwidrig”, gäbe Bewährtes auf, “um das uns die ganze Welt beneide[t]”. 7
Schauen wir und daher die drei Säulen bezüglich ihrer makroökonomischen Funktionen und Verteilungswirkungen etwas genauer.
Die AHV ist, abgesehen von den Steuerprozenten, im Umlageverfahren finanziert. Wie bei einer Steuer werden die laufen Ausgaben (Renten) durch die laufenden Einnahmen (Beiträge) finanziert. Bei den Beitragszahlern wird also ein Teil der Kaufkraft abgeschöpft und an die Anspruchsberechtigten transferiert. Die AHV hat eine für die Schweiz ausgeprägt umverteilende Wirkung, da Beiträge auf das gesamte Einkommen erhoben werden, die Renten dagegen gedeckelt sind. Der wesentliche Unterschied zur Steuerfinanzierung ist, dass die Beiträge nur auf die Erwerbseinkommen und damit nicht auf alle Einkommen erhoben werden und nicht progressiv sind, was auf der Linken bei aller Begeisterung für die umverteilende Wirkung der AHV zumeist übersehen wird. Zudem übersehen werden die Auswirkungen der Tatsache, dass AHV-Beiträge vom zu versteuernden Einkommen abgezogen werden, was angesichts der steuerlichen Progression eine Umverteilung von unten nach oben bewirkt: Die untersten Einkommensklassen entrichten 4,35% AHV-Beitrag vom Einkommen; die Steuerlast reduziert sich dadurch aber nicht. Mit zunehmendem Einkommen nähert sich der faktische AHV-Beitragssatz nach Steuern asymptotisch 4,35% * (1 – t’), wobei t’ den persönlichen Grenzsteuersatz bezeichnet.8 Je nach Wohnort sinkt die faktische Belastung durch die AHV also auf bis gegen 2,5%. Die von den Unternehmen entrichteten 4,35% sind Betriebsaufwand, so dass auch hier, abhängig von den Grenzsteuersätzen der Unternehmen, faktisch z.T. weit weniger als der nominale Satz als Kosten anfällt. Die Ausgestaltung der AHV reduziert das Steueraufkommen also beträchtlich, und das insbesondere durch die Abzüge bei den bessergestellten Individuen und den profitablen Unternehmen.
Wesentliche Vorzüge des Umlageverfahrens sind, dass es einfach und kostengünstig zu verwalten, nicht den Launen der Finanzmärkte ausgesetzt und robust ist. Auf die Probe gestellt wird die Robustheit in Perioden des demographischen Übergangs, wenn sich der Anteil von Zahlenden zu Beziehenden verringert, wie mittlerweile durch die steigende Lebenserwartung praktisch weltweit. Diejenigen, die durch das Umlageverfahren ohnehin nur ihre Geschäfte geschmälert sehen, aber auch wohlwollendere Stimmen, betonen, dass sich bis zum Ende dieser Transition in einigen Jahrzehnten ein Finanzierungsproblem auftue. Dies gilt aber nur, wenn man von gleichbleibenden Renten, Beiträgen und betragspflichtigen Einkommen ausgeht. Die Arbeitsproduktivität steigt jedoch seit der Industriellen Revolution verlässlich, und die sozioökonomischen Veränderungsprozesse in der Schweiz während der letzten Jahrzehnte sowie die Zuwanderung von Erwerbspersonen erhöhen das beitragspflichtige Einkommen kontinuierlich und ökonomisch signifikant. Ein Finanzierungsproblem tritt bei gleichbleibender Rentenbemessung also nur auf, wenn die Veränderungsrate des Verhältnisses von Beitragspflichtigen zu Anspruchsberechtigten schneller wächst als die Lohnsätze und die Erwerbsbevölkerung zusammengenommen, womit Alarmismus in der Schweiz sicher nicht angezeigt ist.
Zur Robustheit der AHV gehört aber auch die Sicherung der Kaufkraft der Pensionierten bei Inflation, wie gerade wieder schmerzlich bewusst wird. Auch unter diesem Gesichtspunkt schneidet die AHV gut ab. Anhand des sogenannten “Mischindexes” werden die AHV-Renten nämlich zu 50% dem Preisindex und zu 50% dem Lohnindex angepasst. Steigen die Löhne schneller als die Preise, wie es in der Schweiz die Regel ist, wird also nicht nur der Kaufkraftverlust der Renten ausgeglichen, sondern die Versicherten haben auch Teil am Produktivitätsfortschritt.
Die umverteilende Wirkung der AHV mit Beiträgen auf Basis des gesamten Einkommens bei gedeckelten Renten betrachtet die Linke zu Recht als Errungenschaft. Übersehen wird dabei aber, dass die AHV ausschliesslich an die Erwerbseinkommen gekoppelt ist und damit nur etwa zwei Drittel des gesamten Einkommens abdeckt. Der Rest, insbesondere also Kapitalgewinne und -einkünfte sowie Mieteinnahmen, die tendenziell eher für finanziell Bessergestellte Bedeutung haben, sind zwar nicht rentenbildend, aber eben auch nicht beitragspflichtig. Die Umverteilung durch die AHV findet also hier ihre Schranke, die es für die Linke zu beseitigen gälte.
Ein immer wieder vorgebrachter Frontalangriff auf das Umlageverfahren lautet, es sei ein Pyramidensystem. Dass InteressenvertreterInnen jedes Argument recht ist, mit dem sie Eindruck machen können, ist nachvollziehbar, aber da selbst vermeintlich seriöse Medien wie die NZZ dies immer wieder aufgreifen,9 müssen wir dem erwidern: Pyramidensysteme (auch: Schneeballsysteme oder Ponzi finance) sind betrügerische Finanzkonstrukte, bei denen naive AnlegerInnen mit hohen Renditeversprechen geködert werden. Sie generieren keine Einkünfte ausser den Einzahlungen von immer neuen AnlegerInnen. Die Auszahlung der ersten Generation inkl. Rendite finanziert die zweite Generation, deren Auszahlungen die dritte, usw. Die tatsächlich gezahlten hohen Renditen sprechen sich herum, und die Zahl der NeuanlegerInnen wächst. Das funktioniert aber nur so lange, wie die Neuanlagen mit exponentieller Rate wachsen, der Zusammenbruch erfolgt daher zwangsläufig, meist schon innerhalb von Monaten oder wenigen Jahren. Aus dem betrügerischen Bankrott bleibt keine Konkursmasse, und viele AnlegerInnen haben ihre Ersparnisse unwiederbringlich verloren. Damit sollte klar sein, dass der Pyramiden-Vorwurf gegenüber der AHV, wenn er in Kenntnis der Sachverhalte geschieht, perfide ist. Ein Umlageverfahren braucht nicht eine exponentiell wachsende Zahl von Beitragszahlerinnen, sondern eine stabile, und das unter Berücksichtigung der oben erläuterten Präzisierungen.
Die Verunglimpfung des Umlageverfahrens geht zumeist einher mit der Behauptung, dass das Kapitaldeckungsverfahren nichts mit solchen Pyramiden zu tun hätte; jedeR spare für dich selbst, und der demographische Wandel sei daher irrelevant. Was aber aus individueller Sicht plausibel klingt, ist es aus makroökonomischer Sicht oft gar nicht. Es handelt sich hier um einen Trugschluss von der Mikro-auf die Makroebene: Auf der Mikroebene gleicht Vorsorgesparen dem Nüsse-Sammeln des Eichhörnchens für den Winter. Eine Volkswirtschaft als Ganzes kann aber keine Vorräte anlegen, aus denen später geschöpft wird. Der volkswirtschaftliche Verbrauch einer laufenden Periode kann nur aus der volkswirtschaftlichen Produktion derselben Periode genommen werden.10 Im Steuer- oder Umlageverfahren werden den wirtschaftlich Aktiven Teile ihrer Kaufkraft entzogen und die damit verbundenen Konsummöglichkeiten werden an die Pensionierten transferiert. Derselbe Transfer findet real auch bei Kapitaldeckung statt, nur dass es oberflächlich anders erscheint; die wirtschaftlich Aktiven verzichten aus freien Stücken auf Teile ihrer Kaufkraft (dritte Säule) oder werden dazu verpflichtet (zweite Säule), die damit verbunden Konsummöglichkeiten werden an diejenigen transferiert, die ihre Vorsorgeersparnisse auflösen. Kritisch ist, dass die Eichhörnchen-Analogie gesamtwirtschaftlich nicht stimmt, Pensionierte haben keine Vorratsspeicher gefüllt, sondern müssen ihre Finanzanlagen auflösen.11 Wenn im Zuge des demographischen Übergangs immer mehr Finanzanlagen aufgelöst werden und gleichzeitig immer weniger davon nachgefragt werden, schmelzen die Vermögenspreise wie die Gletscher an der Sonne. Die Renditeversprechen der Finanzmärkte aus der Vergangenheit zu extrapolieren, war somit ein extrem irreführendes Argument für die Einführung der zweiten Säule. Der “dritte Beitragszahler” hat bereits jetzt nicht gehalten, was 1972 versprochen worden war, und es ist nicht ersichtlich, warum es in Zukunft anders sein sollte.
Hier ist ein kurzer Exkurs über nachhaltige Finanzmarktrenditen angebracht. In einem langfristigen Gleichgewicht können die realen Finanzmarktrenditen (also nominal minus Inflationsrate) nicht höher sein als das reale Produktivitätswachstum, ansonsten beanspruchen sie einen immer höheren Anteil am Sozialprodukt. Auf längere Perioden mit darüber hinausgehenden Renditen folgt daher unweigerlich ein Crash, wie die Wirtschaftsgeschichte bis in die jüngste Vergangenheit immer wieder bestätigt hat. Längerfristig sind hohe nominale Renditen nur bei hohen Inflationsraten nachhaltig. Wer der “Geldillusion” unterliegt, mag sich an hohen Renditen erfreuen, übersieht dabei aber die schwindende Kaufkraft. Genau dies wird nach rund 15 Jahren ohne nennenswerte Inflation (zeitweise sogar mit Deflation) für die zweite und dritte Säule wieder zum Problem. In der dritten Säule gibt es systembedingt keinen Teuerungsausgleich nach Auszahlung, und die Kaufkraft schwindet Jahr für Jahr in Höhe der Inflationsrate. In der zweiten Säule gilt dasselbe für denjenigen Teil, den bei der Pensionierung als Kapital bezogen wird, aber auch für jenen, der annuitisiert (in eine Rente umgewandelt wird) wird, ist gesetzlich keine Anpassung an die Teuerung vorgesehen. Bei guter Finanzierungslage wurde eine solcher zwar in der Vergangenheit von einigen Kassen gelegentlich gewährt, aber für die Versicherten war das wie eine Lotterie, und bei der vorauszusehend schwierigeren Lage der Pensionskassen sollte niemand für die Zukunft darauf setzen. Der Nachteil für die Versicherten im Vergleich zur AHV liegt auf der Hand: Hier Anpassung an Teuerung und Produktivitätswachstum, dort bis ans Lebensende und danach für anspruchsberechtigte Partner/Kinder gleichbleibende Bezüge, wenn die Pensionskasse nicht von sich aus eine Erhöhung beschliesst, worauf man aber keinen Einfluss hat. Um die Konsequenzen zu verdeutlichen: 2% Inflation reduziert die Kaufkraft innerhalb von 35 Jahren auf die Hälfte, 3% bereits in 23 Jahren. Von den versprochenen 60% Lohnersatz bleibt dann während des Ruhestands real immer weniger, selbst wenn das Versprechen zunächst eingelöst worden sein sollte.
Bevor wir zu weiteren fundamentalen Fragwürdigkeiten der zweiten Säule kommen, sei hier auf eine berechtigte Kritik verwiesen, welche sie aber nicht überwinden, aber zumindest versichertenfreundlicher gehandhabt sehen möchte.12 Diese Kritik zielt auf die Abflüsse von Vorsorgegeldern an den Finanzsektor, die zunehmende Konzentration von betrieblichen Kassen auf wenige – mit der Banken- und Versicherungswirtschaft eng verflochtene – Vorsorgeeinrichtungen und die praktische Entmachtung der paritätisch besetzten Stiftungsräte, wodurch die Abflüsse begünstigt werden. Dass aus der dritten Säule Verwaltungsgebühren, Provisionen, Beratungshonorare und Dividenden an den Finanzsektor gezahlt werden, ist wohl zumeist legallegal, aber nicht immer legitim. Anlass für Kritik gibt auch die verbreitete Strategie des „aktiven“ Anlegens der Vorsorgegelder, durch die nach Schätzungen gegenüber einer „passiven“ Anlage in Indexfonds langfristig signifikant geringere Renditen erzielt werden und darüber hinaus erhebliche zusätzliche Kosten anfallen, die den so Versicherten verlorengehen. Abgesehen von der Romantisierung der alten Zeiten, in denen die Gewerkschaftsvertreter in den betriebsnahen Stiftungsräten zusammen mit den Patrons kluge und uneigennützige Entscheidungen trafen, ist dem natürlich zuzustimmen, und wenn Vertreter der Finanzwirtschaft behaupten, sie würden aufgrund ihrer Fähigkeiten Anlagen auswählen, die besser abschneiden als der Durchschnitt (die Indexfonds), sollte die selbstgerechte Überheblichkeit offensichtlich sein. Aus linker Sicht sollte man diese Kritik also sicher unterstützen, aber nicht übersehen, dass damit nur oberflächliche Mängel am Status quo benannt werden.13
Bezüglich der kapitalgedeckten zweiten Säule ist hierzulande mittlerweile die Mehrheitsmeinung in Wissenschaft, Politik und Finanzwirtschaft, dass der gegenwärtige Umwandlungssatz der zweiten Säule von 6,8% auch nach den sukzessiven Senkungen von ursprünglich 7,2% nach versicherungsmathematischen Massstäben zu hoch sei.14 Diesen Einschätzungen zufolge liegt der aktuarisch korrekte Satz bei 5%. Die momentan von den Eidgenössischen Räten geplante Kürzung auf 6,0% ginge demzufolge noch nicht weit genug. Es sei hier dahingestellt, welches der aktuarisch richtige Umwandlungssatz bei einer passiven Analagestrategie und bescheideneren Gebühren und Provisionen für Verwaltung und Anlage der Vorsorgegelder ist. Praktisch machen, wie bereits erwähnt, viele Kassen eine Mischrechnung mit Umwandungssätzen von rund 5% für das gesamte Vorsorgeguthaben, so dass nur Kassen mit wenigen überobligatorisch Versicherten praktisch von einer Senkung des Satzes betroffen wären.
Das aus linker Sicht grundlegende Problem sollte der hohe Stellenwert der “Eigenverantwortung“ (jedeR für sich) sein. In der zweiten Säule ist sie zwar vorgeschrieben, so dass es sich eher um eine kollektive Entscheidung zum Zwangssparen handelt als um individuelle Einsicht in eine Notwendigkeit. Beiträge in die Säule 3a sind dagegen tatsächlich freiwillig, auch wenn hier der Eigenverantwortung offensichtlich mit steuerlichen Anreizen auf die Sprünge geholfen werden muss. Für das bürgerliche Lager steht und fällt nun die Legitimität des Schweizer Alterssicherungssystems mit der strikten Trennung von erster und zweiter Säule. In letzterer dürfe es keine Umverteilung geben, genauso wenig wie in der dritten. Dieser Glaubenssatz ist durch ständige Wiederholung fest verankert, wobei nicht mitgesagt wird ist, dass es sich um ein Werturteil handelt, mit dessen Verankerung im BVG die Einkommensunterschiede über die Pensionierung hinaus perpetuiert werden. Umverteilung in der zweiten Säule ist also das rote Tuch der Bürgerlichen, die sich hier als die wahren “BesitzstandswahrerInnen“ erweisen. Die Linke hat nicht den geringsten Grund, sich diesem Werturteil anzuschliessen, aber für eine informierte Argumentationsgrundlage sei als nächstes zudem betrachtet, ob und wo es im Drei-Säulen-System nicht bereits jetzt Umverteilung gibt.
Am einfachsten ist dies für die eher rhetorisch als faktisch errichtete Säule 3b zu beantworten. Wer freiwillig spart verfügt frei über die kumulierte Ersparnis zuzüglich Zins- und Zinseszins oder Vermögensgewinne bzw. -verluste. Umverteilung findet nicht statt, auch wenn ein Teil der Ersparnis gebührenhalber und mittels Zinsspread an den Finanzsektor geht, solange nicht einfach 1’000er Noten im Küchenschrank gestapelt werden.
Bei der Säule 3a gibt es dagegen, selbst wenn auch hier tatsächlich jedeR für sich selbst spart, aufgrund der steuerlichen Abzugsfähigkeit in Verbindung mit präferenziellen Steuersätzen bei der Auszahlung eine eindeutige Umverteilung von unten nach oben. Ohne die Steuerprivilegien würden die Besserverdienenden erheblich mehr Einkommenssteuern zahlen, die Schlechtergestellten gar nicht oder nur unerheblich mehr. Wie erwähnt, kann die Säule 3a für die Schlechtergestellten sogar eine Negativrendite haben, da die Auszahlungen für Besser- wie Schlechtergestellte zu den gleichen positiven Sätzen und unabhängig von den übrigen Einkünften versteuert werden. Systemisch ist die Säule 3a also zum einen eine Steuersubvention für Besserverdienende, zum anderen kann sie als Subvention des Finanzsektors betrachtet werden, denn angesichts der in der Schweiz von den Bürgerlichen geschürten und tatsächlich verbreiteten Aversion gegen Steuern, kann der Finanzsektor 3a-Konten zu Konditionen anbieten, die ohne Steuerersparnis nicht akzeptabel wären.
Kommen wir zur zweiten Säule, in der für die Bürgerlichen Umverteilung ein Tabu ist. Bei genauerem Hinsehen zeigt sich aber, dass Umverteilung von Anfang an Systembestandteil war. Referenzpunkt sei eine Person, die für sich selbst spart und zum Zeitpunkt der Pensionierung das Sparguthaben inkl. Netto-Vermögensgewinn ausbezahlt bekommt. Die Option des Kapitalbezugs ist für die Bürgerlichen wichtig, da mit ihr die Fiktion des individuellen Sparens und schlauen Anlegens am besten aufrechterhalten werden kann, selbst wenn die Entscheidungen an den Gesetzgeber (Sparbeiträge) bzw. die Pensionskassen (Anlagestrategie) ausgelagert sind. Das dürfte auch ein Grund dafür sein, weshalb sich die Bürgerlichen einer Abschaffung oder Reduktion der Option des Kapitalbezugs widersetzen. Aber schon hier stimmt das Bild vom Eichhörnchen nicht, denn die Pensionskassen leisten intertemporären Risikoausgleich, den es bei der individuellen Vermögensbildung nicht gibt. Wer sein privates Anlagevermögen auflöst, ist dem Auf und Ab der Finanzmärkte ausgesetzt. Wie viele derjenigen erfahren haben, die aufgrund des Erreichens des AHV-Alters ihre 3a-Konten im schlechten Börsenjahr 2022 auflösen mussten. Das kann zu massiven Verlusten führen. Vor dem mit kurzfristigen Ausschlägen an den Finanzmärkten verbundenen Risiko schützt die zweite Säule aber mit ihrer gesetzlich reglementierten Verstetigung der Anlageerträge. Umverteilung findet also von denen statt, die in guten Börsenjahren pensioniert werden, zu jenen, die in schlechten Börsenjahren ihr Pensionsalter erreichen. Diese Umverteilung ist nicht systematisch zwischen unten und oben, aber es ist zum Teil massive Umverteilung: Ausserhalb der zweiten Säule würde es als Enteignung gelten, wenn jemand mit einer glücklichen Hand an der Börse die Kursgewinne mit den Verlierern teilen müsste. Derjenige Teil der Vorsorgeersparnis, der in eine Pension umgewandelt wird, ist ebenfalls massiv von Umverteilung betroffen, und zwar von den Alleinstehenden und Kinderlosen zu den anspruchsberechtigten überlebenden PartnerInnen und Kindern von Verstorbenen mit Angehörigen. Auch diese Umverteilung ist nicht systematisch zwischen oben und unten, dafür aber hin zu denen, die im traditionellen Familienverband leben. Über diese sozialpolitische Ausrichtung kann man geteilter Meinung sein, aber auch sie ist klar Umverteilung innerhalb der zweiten Säule.
Der von den Bürgerlichen beklagte “Reformstau” bei der zweiten Säule bemängelt nun aber, es gebe eine systematische Umverteilung von den Jungen zu den Alten.15 Die Anlagerenditen sind massiv gesunken, es werde aber von den “BesitzstandswahrerInnen“ trotzdem am versicherungsmathematisch längst zu hohen Umwandlungssatz von 6,8% festgehalten, und es fehle an Akzeptanz, das Rentenalter zu erhöhen. Anders ausgedrückt heisst dies, dass man die 1972 gemachten Versprechen über die Rentenhöhe zurücknimmt und gleichzeitig, allerdings mit weniger Nachdruck, mehr Zwangsersparnisse ins System leiten will. Wie bereits oben angemerkt, betrifft diese Finanzierungslücke vor allem Pensionskassen mit hohen Anteilen von nur im “Obligatorium” Versicherten. Kassen mit vielen Personen im “Überobligatorium” haben das Problem längst mit einer den legalen Spielraum ausnützenden Mischrechnung aus der Welt geschafft, aus der Umwandlungssätze um 5% resultieren. Hier wurde also das Versprechen über die Rentenhöhe zurückgenommen, aber die Umverteilung findet nicht von Jung zu Alt statt, sondern von Personen mit höheren Vorsorgeguthaben zu solchen mit niedrigeren, deren Guthaben in Gänze zu 6,8% verrentet werden müssen. Bemerkenswerterweise überlagert sich hier in der Schweiz ein weiteres Mal die Kategorie Bessergestellte versus Schlechtergestellte mit der von Männern versus Frauen, da Männer als Besserverdienende im Schnitt höhere Vorsorgeguthaben ansparen als Frauen, das Ganze noch verstärkt durch den Koordinationsabzug, welcher den Anteil des pensionkassenpflichtigen Einkommens mit zunehmendem Einkommen erhöht.
Nicht zuletzt müssen die steuerlichen Auswirkungen der zweiten Säule betrachtet werden. Sowohl Pensionskassenbeiträge als auch freiwillige Zusatzzahlungen und Einzahlungen bei “Beitragslücken” werden, genau wie die AHV-Beiträge, vom zu versteuernden Einkommen abgezogen, was angesichts der steuerlichen Progression eine Umverteilung von unten nach oben bewirkt. Für die untersten Einkommensklassen ist die Steuerersparnis null oder minim, bei den mit zunehmendem Einkommen nähert sie sich asymptotisch den höchsten Grenzsteuersätzen. Das Zwangssparen der Bessergestellten ist also steuerlich deutlich stärker subventioniert als das der Schlechtergestellten. Systematische Umverteilung zwischen oben und unten gibt es also, wenn die Einkommenssteuern mitbetrachtet werden, in der Tat, und zwar von unten nach oben. Systemisch führt die zweite Säule also, ebenso wie die Säule 3a, zu einer Steuersubvention für Besserverdienende, zum anderen kann auch sie als Subvention des Finanzsektors betrachtet werden, denn angesichts der Alternativlosigkeit bei der Mitgliedschaft in einer Pensionskasse kann der Finanzsektor angesichts der lückenhaften Kontrolle Vermögensverwaltung zu Konditionen anbieten, die freiwillig wohl für viele nicht akzeptabel wären.
Ganz ungeheuerlich ist, dass es offensichtlich in der Vergangenheit keine Seltenheit war, dass Gemeinden AntragstellerInnen von Sozialhilfebeziehende zum Vorbezug ihrer Pensionskassenguthaben nötigten, so dass diese in wirtschaftliche Not geratenen auch noch ihre BVG-Renten verloren. Ein kürzlicher St. Galler Gerichtsentscheid versucht, dem einen Riegel vorzuschieben, aber da sich Betroffene gegen eine solche Zumutung wehren müssen, ist fraglich, ab es nicht weiterhin erzwungene Pensionkassenvorbezüge geben wird.
Schliesslich ist hier nochmals auf die Option einzugehen, das Vorsorgeguthaben je nach Pensionskasse teilweise oder vollständig als Kapitalauszahlung zu beziehen, anstatt es in eine lebenslange Rente umzuwandeln, die ggf. sogar noch über die eigene Lebenszeit hinaus enge Angehörige absichert. Wie bereits oben ausgeführt, ist dies zum einen ein wichtiges Element der Erzählung, jedeR spare für sich selbst. In der wissenschaftlichen Literatur entscheidend ist aber der Barwert der Optionen unter Berücksichtigung aller Risiken, darunter das Anlagerisiko am Finanzmarkt, besonders aber das Langlebigkeitsrisiko, das man mit einer Annuitisierung von Tisch schafft. Im Einzelfall mag zwar ein Kapitalbezug vorteilhaft sein, etwa in Kenntnis einer schweren Erkrankung mit absehbar baldiger Todesfolge. Präferenz für gegenwärtigen Konsum ist ein weiterer offensichtlicher Faktor für einen Kapitalbezug, besonders bei niedrigen Vorsorgeguthaben. Für eine Durchschnittsperson ist eine Rente der Literatur zufolge aber die weit bessere Wahl.16 Die Entscheidung, die Personen vor der Pensionierung zugemutet wird, ist ebenso weitreichend wie unangenehm. Zunächst kann die Wahl in steuerlicher Hinsicht je nach persönlichen Umständen (Höhe des Altersguthaben, andere Einkünfte, Familienstand, Wohnsitz und Lebensdauer nach der Pensionierung), grosse Unterschiede ausmachen. Insbesondere für gesunde Bessergestellte können die kumulierten Steuerzahlungen auf die Rente erheblich höher ausfallen als die Einmalsteuer auf die Auszahlung, die zu einem präferenziellen Satz erfolgt. Der innerschweizerische Steuerwettbewerb ermöglicht auch hier für Vermögende durch gezielte Wahl des Steuerwohnsitzes die Rechnung tief zu halten. Die Finanzindustrie unterlässt es natürlich nicht, auf die Möglichkeit von Steuerersparnissen hinzuweisen, zusammen mit hohen zu erwartenden Renditen, wenn man ihr das Kapital zur Verwaltung überlässt. Die Renditen sind aber nicht garantiert, und die Lebenserwartung ist ungewiss, so dass der Kapitalbezug immer eine Wette auf die verbleibende Lebenszeit einschliesst, mit dem unschönen Ergebnis, das man finanziell umso grössere Spielräume hat, je kürzer man lebt. Hinzu kommt zumeist ein besonders hässlicher Aspekt der Entscheidung, die daher rührt, dass überlebende Partner und Kinder höchstens auf einen Teil der Rente in Höhe von 60% bzw. 20% hoffen können, bei einer Kapitalauszahlung jedoch auf das gesamte nicht verbrauchte Kapital, und das als Erbschaft steuerfrei. Von Angehörigen zum Kapitalbezug gedrängt zu werden, oder dem vermuteten Wunsch zuvorzukommen, und dann zu wissen, dass ein früher Tod nach dem Kapitalbezug für die Hinterbliebenen finanziell vorteilhaft ist, gehört sicher nicht zu den erbaulichen Familiengeschichten. Man mag einwenden, wenn sich jemand für einen Kapitalbezug entscheide und das hinterher bereue, sei es ein selbstverschuldeter Fehler, also Eigenverantwortung, zu der man stehen solle. Zum einen setzt dies aber einen detaillierten Informationsstand und die Kompetenz voraus, eine derart komplexe Entscheidung informiert und rational treffen zu können, was schon angesichts der Ungewissheit über die eigene Lebenserwartung – vorsichtig ausgedrückt – ambitioniert erscheint. Hinzu kommt aber, dass Kapitalbezug eine moral hazard-Situation schafft, in der die nachteiligen, nicht aber die vorteilhaften Konsequenzen hoher Risikobereitschaft von anderen getragen werden, was dann wiederum die Risikobereitschaft erhöht. In unserem Fall heisst dies, dass jemand absichtlich in Kauf nehmen kann, das ausgezahlte Kapital vor dem Lebensende aufgezehrt zu haben, in der Gewissheit, dann Ergänzungsleistungen oder Sozialhilfe zu beziehen. Auch dies ist Umverteilung, und zwar von den SteuerzahlerIinnen zu HazardeurInnen.17

Epilog: Reform der zweiten Säule, Frühjahr 2023

Am 17 März 2023 hat der Nationalrat beschlossen, dass als Kompensation für die Senkung des Umwandlungssatzes von 6,8% auf 6,0% die 15 zuerst betroffenen Jahrgänge Zuschläge zu ihren BVG-Renten erhalten sollen. Wer über ein Altersguthaben von bis zu 215’100 CHF verfügt, hat Anrecht auf einen Zuschlag von monatlich 200 CHF. Bei über 215’100 CHF bis zu 430’200 CHF ist der Zuschlag degressiv. Wer über ein noch höheres Altersguthaben verfügen kann, erhält keine Kompensation, was für etwa die Hälfte der Übergangsgeneration zutrifft. Zudem sollen satt des bisherigen Koordinationsabzugs 20% des Einkommens unversichert bleiben. Die bisherige Eintrittsschwelle von 22’050 CHF jährlichem Einkommen, mit der jemand in eine Pensionskasse eintritt, soll auf 19‘845 gesenkt werden.
Diese von den Eidgenössischen Räten ausgehandelte Reform weicht in einem wesentlichen Punkt vom von den Sozialpartnern ausgehandelten und durch den Bundesrat eingebrachten Reformvorschlag ab. Als Kompensation für die Senkung des Umwandlungssatzes sollten neue BVG-Rentner unabhängig von ihrer finanziellen Situation lebenslange Zuschläge erhalten: die ersten fünf Jahrgänge nach Inkrafttreten 200 CHF pro Monat, die nächsten fünf Jahrgänge 150 CHF und die letzten fünf Jahrgänge 100 CHF. Finanziert werden sollte dies durch einen Beitrag von 0,5 Prozent auf dem AHV-pflichtigen Jahreseinkommen bis 853’200 CHF.
Für die bürgerliche Ratsmehrheit war nicht akzeptabel, dass mit diesem Reformvorschlag eine Umlagekomponente in der beruflichen Vorsorge eingeführt worden wäre. Die linke Minderheit hat den bundesrätlichen Vorschlag unterstützt und lehnt die vom Parlament ausgehandelte Reform ab. Sie hat angekündigt, das Referendum zu ergreifen. Bemerkenswert ist, dass die so Bruchlinie klar aufscheint: Für die bürgerliche Mehrheit soll Umverteilung von oben nach unten nur in der AHV stattfinden, für die linke Minderheit sind Reformvorschläge dagegen genau dann akzeptabel, wenn sie die Umverteilung von oben nach unten verstärken. Die AHV vermindert die Einkommensungleichheit in der Ruhestandsphase gegenüber der Erwerbsphase, die berufliche Vorsorge perpetuiert sie.
Schliesslich ist noch auf die geplante Senkung der Eintrittsschwelle und die Modifikation beim Koordinationsabzug einzugehen. Die erklärte Absicht ist, damit auch BezieherInnen geringer Einkommen in der beruflichen Vorsorge zu versichern, was vor allem Frauen mit Teilzeitbeschäftigung betreffen würde. Damit würden zukünftig mehr BezieherInnen geringer Einkommen als bisher BVG-Renten erhalten. Für die tieferen Einkommensklassen, deren neue Renten aus der beruflichen Vorsorge zusammen mit der AHV die “anerkannten Ausgaben” der Ergänzungsleistungen nicht überschreiten, bleiben die neuen Renten aber per saldo für das Alterseinkommen wirkungslos, da sich die Ergänzungsleistungen in gleicher Höhe verringern. Diese Personen müssten während des Erwerbslebens also neu Beiträge an eine Pensionskasse leisten, ohne dass sich damit ihre finanzielle Situation im Alter verbessert.
Laut Parlamentsbeschluss soll es auch zukünftig nicht mehr vier, sondern nur noch zwei Altersstufen für die Beitragssätze geben, und zwar 9% für Personen ab von 25 Jahren und 14% ab 45 Jahren, womit einer möglichen Altersdiskriminierung im jetzigen Regime entgegengewirkt werden soll, wo die höchste Beitragsstufe erst mit 55 Jahren beginnt. Ob damit die Beschäftigungsaussichten für die Personen ab 55 Jahren verbessert werden, sei dahingestellt.
Von der Reform nicht betroffen werden die bereits Pensionierten, nicht oder kaum betroffen die Besserverdienenden. Etwa die Hälfte der Übergangsgeneration erhält Zuschläge – ob per Saldo tatsächlich mehr herauskommt, hängt davon ab, wie stark sich die Senkung des Umwandlungssatzes individuell auswirkt. Schlechterverdienende bis 50 Jahren zahlen höhere Beiträge, aus denen später höhere Renten resultieren können, aber auch hier hängt die Gesamtrechnung davon ab, wie stark sich die Senkung des Umwandlungssatzes auswirkt. Hinzu kommt, dass bei dieser Personengruppe höhere Pensionen zu entsprechend geringeren Ergänzungsleistungen führen können, womit die betroffen Personen eindeutig durch diese Reform verlieren. Nicht Bestandteil der Reform sind Massnahmen für Frauen, welche sofort eine Kompensation für die jüngste Anhebung des Rentenalters bewirken würden. Ebenso wenig finden sich Regeln, welche die Abflüsse von Vorsorgegeldern in die Finanzwirtschaft begrenzen. An der Urne dürfte dieses Reformvorhaben einen schweren Stand haben.
Von: Michael Graff
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Fussnoten

1 Vgl. hierzu auch Graff, Michael (2023), Die Altersvorsorge in der Schweiz. Entstehung, Funktionsweise und Verteilungseffekte, in: KOF-Analysen, 1/2023.
2 Bundesamt für Statistik, Wachstums- und Produktivitätsstatistik, Datenstand: 30.08.2022.
3 Das Denknetz-Modell zum Umbau der beruflichen Vorsorge sieht ebensolche Massnahmen vor.
4 Die Hälfte davon führen die Firmen direkt an die AHV ab (und das gleiche gilt für die zweite Säule). Die Firmen kalkulieren die Arbeitskosten aber anhand der Bruttolöhne inkl. Abgaben, so dass die vermeintliche Co-Finanzierung der Sozialwerke den wirklichen Sachverhalt verschleiert: Die Situation wäre die gleiche, wenn die Beschäftigten AHV- und Pensionskassenbeiträge zu 100% trügen und die Löhne um die jetzigen Beiträge der ArbeitgeberInnen erhöht würden. Kurzfristig sind höhere ArbeitgeberInnenbeiträge aber aufgrund der Rigidität der Nominallöhne sehr wohl ein Kostenfaktor.
5 Seiler Zimmermann, Yvonne und Zimmermann, Heinz (2021): Umverteilung von hohen zu tiefen Löhnen in der zweiten Säule, in: Die Volkswirtschaft 4/2021, 49–51.
6 Dies betrifft vor allem Einpersonenhaushalte, denn in Paarhaushalten werden die Einkommen zusammengezählt und liegen damit häufig über der Grenze für den Bezug von Ergänzungsleistungen.
7 Der weltweite Neid auf die Schweizer drei Säulen wird immer wieder behauptet (z.B. hier oder hier), und das zumeist ohne jede Evidenz. Es wäre ein Leichtes, das angesichts der sinkenden Umwandlungssätze zu falsifizieren, aber so ernst sollten wir es wohl nicht nehmen.
8 Beispiel: wenn der Grenzsteuersatz eines Haushalts, also die Besteuerung des letzten und damit am höchsten besteuerten Frankens, 20% beträgt, reduziert sich die faktische Belastung durch die AHV auf 80% (1 – 0,2) des nominalen Beitrags, also auf 3,48% (= 4,35% *0,8).
9 So z. B. Hansueli Schöchli in der NZZ, vom 21.07.2021: “Die AHV ist ein Pyramidensystem; die heutigen Erwerbstätigen finanzieren die heutigen Rentner, und die Rentner von morgen sollen durch die Erwerbstätigen von morgen finanziert werden.“
10 Diese Feststellung wird im Zusammenhang mit den sozialen Sicherungssystemen als “Mackenroth-These“ bezeichnet; vgl. Mackenroth, Gerhard (1952): Die Reform der Sozialpolitik durch einen deutschen Sozialplan. In: Schriften des Vereins für Socialpolitik Neue Folge, Band 4, Berlin, S. 41: “Nun gilt der einfache und klare Satz, dass aller Sozialaufwand immer aus dem Volkseinkommen der laufenden Periode gedeckt werden muss. Es gibt gar keine andere Quelle und hat nie eine andere gegeben, aus der der Sozialaufwand fließen könnte, es gibt keine Ansammlung von Fonds, keine Übertragung von Einkommensteilen von Periode zu Periode, kein ‘Sparen’ im privatwirtschaftlichen Sinne …”
11 Die Mackenroth-These ist für offene Volkswirtschaften wie folgt zu modifizieren: Kumulierte Leistungsbilanzüberschüsse führen zu einer positiven Nettoauslandsposition. Das Inland als Ganzes kann also Auslandsersparnis anhäufen und in späteren Perioden darauf zurückgreifen, sofern die Anlagewerte nicht abgeschrieben werden müssen. Dies setzt allerdings voraus, dass die Leistungsbilanz für längere Zeit negativ ist. Die Nettoauslandsposition der Schweiz ist nun in der Tat seit langem positiv, aber Gläubiger sind nicht die Pensionskassen, sondern zuletzt vor allem die Schweizerische Nationalbank. Es ist auch nicht erkennbar, dass die Schweizer Wirtschafts- und Sozialpolitik auf ein baldiges und anhaltendes Drehen der Leistungsbilanz ins Negative setzt, so dass die Präzisierung der Mackenroth-These in unserem Zusammenhang folgenlos bleibt.
12 Schlumpf, Danny und Nottaris, Mario (2022), Das Rentendebakel. Zürich.
13 Siehe hier dazu im Detail die Zusammenfassung des Buchs „Das Rentendebakel“ und das Interview mit Danny Schlumpf, einem der Autoren.
14 Vgl. hierzu Eling, M. (2013), Intergenerationale Transfers und die Stabilität des Schweizer Rentensystems. The Geneva Papers, 38, 701–728.
15 Einige Vorsorgeeinrichtungen benutzen in der Tat einen Teil der laufenden Beitragszahlungen zur Sicherung laufender Rentenansprüche, was technisch einem Umlageverfahren entspricht. Dieser Umlagemechanismus ist aber improvisiert und nicht dauerhaft gesichert. Sollte er in der Zukunft einmal reduziert oder ganz eliminiert werden, würde das zu einer Rentensenkung der entsprechenden Generation führen.
16 Für die Schweiz, vgl. dazu u. a. Bütler, Monica und Teppa, Frederica (2007), The choice between an annuity and a lump sum: Results from Swiss Pension Funds, in: Journal of Public Economics, 91, 1944–1966.
17 Anders als beim durch die starken Pfadabhängigkeiten schwierigen und nur langfristig möglichen Ausstieg aus der Kapitaldeckung, könnte das Ärgernis der Kapitalauszahlung schnell aus der (Schweizer) Welt geschafft werden. Auch wenn sich die Finanzwirtschaft dagegen wehren wird, scheint hier, insbesondere angesichts der Möglichkeit des “Trittbrettfahrens“ eine parlamentarische Mehrheit in absehbarer Zeit nicht ausgeschlossen.