Beat Ringger

Diskussion

Das Denknetzmodell für eine BVG-Totalrevision
20.04.2023   |   Die zweite Säule muss im Kern, d.h. im obligatorischen Bereich, von der Kapitaldeckung auf das Umlageverfahren umgestellt werden, wie es das Denknetz-Reformmodell für eine BVG-Totalrevision fordert. Nur so werden BVG-Renten gerechter und sicherer.
Mario Nottaris und Danny Schlumpf legen in ihrem Buch Rentendebakel den Finger auf einen wunden Punkt: Die Finanzindustrie hat in der Schweiz seit Ende der 1990er Jahre wichtige Teile der zweiten Säule regelrecht gekapert. Hier braucht es zweifellos ein entschlossenes Eingreifen des Gesetzgebers. Doch die Geburtsfehler der zweiten Säule (auch Berufliche Vorsorge, BVG genannt) gehen über die Regulierung der Vermögensverwaltung hinaus. Zur Debatte steht das Kapitaldeckungsverfahren als solches.
Die zweite Säule ist in der Schweiz seit 1984 obligatorisch. Basis ist das Bundesgesetz über die berufliche Alters-, Hinterlassenen- und Invalidenvorsorge (BVG). Die zweite Säule funktioniert nach dem Prinzip eines obligatorischen Sparbüchleins: Die Versicherten sind verpflichtet, während des Erwerbslebens ab dem 26. Lebensjahr Beträge für ihr Alterskapital anzusparen. Das Alterskapital wird von den Vorsorgeeinrichtungen (Pensionskassen, Sammelkassen, spezialisierten Versicherungen) auf den Finanzmärkten angelegt. Mit der Pensionierung wird das Guthaben ausbezahlt oder per Umwandlungssatz in eine lebenslange Rente überführt.
Zunächst schien dies für die Versicherten eine grossartige Lösung zu sein. Die Finanzmärkte waren im Hoch. Die Handelswerte von Immobilien und von Wertpapieren stiegen und stiegen – und so auch die BVG-Renten. Der Umwandlungssätze lagen viele Jahre lang bei rund 7%. Doch ab den 2010er Jahren dreht der Wind, und innerhalb weniger Jahre sinken die Sätze und damit die Renten um 20% und mehr. Im Jahr 2010 liegt der Mittelwert des Umwandlungssatzes für Männer bei einer Pensionierung im Alter von 65 noch bei 6.74% und sinkt dann kontinuierlich auf 5.45% im Jahr 2023 (Prognose; Swisscanto. Schweizer Pensionskassenstudie 2019) . Auf die Generation Glück folgt die Generation Pech, die mit Umwandlungssätzen im Bereich von 5% oder sogar noch weniger vorliebnehmen muss. Jetzt treten die Nachteile der Kapitaldeckung deutlich hervor.
Um die Renteneinbussen abzufedern, beginnen die Pensionskassen, eine faktische Umlagekomponente einzubauen, allerdings in ungeregelter Art und Weise. Sie verwenden Teile der neuen Beiträge, um die bestehenden Rentenverpflichtungen zu erfüllen. Jährlich werden so – je nach Schätzung – zwischen vier und sieben Milliarden CHF umgelegt. Für die Bürgerlichen ist das ein Sakrileg. Sie behaupten, diese Umverteilung gehe zu Lasten der jüngeren Generationen. Das stimmt nicht: Die gesamte AHV funktioniert nach dem Umlageverfahren, ohne die Jüngeren zu benachteiligen. Allerdings muss nun bei einem BVG-Umlageanteil dafür gesorgt werden, dass das intransparente Wursteln der Kassen gestoppt und die Verwendung der Umlagekomponente transparent, gerecht und nachhaltig geregelt wird. Tut man dies, dann sichert man damit eben gerade auch den jüngeren Generationen ihre künftigen Renten und schafft echte Generationensolidarität. Doch genau dagegen wehren sich die Bürgerlichen mit Händen und Füssen. Entsprechend vehement ist ihre Ablehnung des Kompromiss-Modells von Gewerkschaften und Arbeitgeberverband ausgefallen, weil es einen solchen Umlageanteil im BVG festschreiben will. Dieses Modell war 2019 entwickelt worden und hätte als Grundlage für die anstehende BVG-Reform dienen sollen.
Diese BVG-Revision droht nun 2023 zu scheitern. Die Linke hat das Referendum ergriffen – mit guten Erfolgsaussichten. Damit würde der Weg freigemacht für eine neue, solidarische Lösung, mit der die Renten gesichert, die Generationengerechtigkeit gestärkt und endlich auch für mehr Gendergerechtigkeit gesorgt wird. Eine solche Lösung ist das Denknetz-BVG-Reformmodell. Das Modell schlägt einen Systemwechsel vor. Im Bereich der Obligatoriums soll die zweite Säule künftig ähnlich wie die AHV funktionieren. Die Versicherten zahlen ihre Beiträge an eine neue Zentralstelle und erhalten ihre Renten zum garantierten Satz von 6.8% von eben dieser Stelle ausbezahlt. Die bisher individuell angesparten Alterskapitalien bleiben vollumfänglich erhalten und kommen weiterhin den Versicherten zugute. Verwaltet werden sie von den heutigen Vorsorgeeinrichtungen, allerdings bei deutlich verbesserter Kontrolle und klaren Auflagen betreffend ihren Anlagestrategien. Die Erträge aus diesen Anlagen müssen von den Vorsorgeeinrichtungen an die neue Zentralstelle überwiesen werden, soweit sie auf dem obligatorisch angesparten Kapital beruhen. Die neu einbezahlten Sparbeiträge hingegen werden direkt von der neuen Zentralstelle betreut, analog zum heutigen AHV-Ausgleichsfonds. Sämtliche Guthaben werden dabei strikt nach ökologischen und sozialen Kriterien angelegt.
Mit der neuen AHV-ähnlichen Struktur sind jetzt die Voraussetzungen dafür geschaffen, auch in der zweiten Säule Betreuungsgutschriften einzuführen. Damit erhöhen sich die Renten der Betreuenden – insbesondere der Frauen – sprunghaft. Die Rentenanteile, die auf solchen Gutschriften beruhen, werden aus allgemeinen Steuermitteln finanziert.
Koordinationsabzug und Eintrittsschwelle werden abgeschafft. Damit steigen die Renten für Personen mit geringen Verdiensten erheblich, was wiederum insbesondere den Frauen zugutekommt. Das hat allerdings zur Folge, dass die Beiträge dieser Versichertengruppe steigen. Um dies abzufedern, sollen die Versicherten die Wahl haben, auf die Beitragszahlung zu verzichten und damit aber auch kleinere Renten in Kauf zu nehmen. Die Beiträge der Arbeitgebenden jedoch sind in jedem Fall geschuldet.
Die Renten von Personen, die über viele Jahre Betreuungsarbeit leisten und deshalb oft auch tiefe Erwerbsarbeits-Pensen aufweisen, werden damit doppelt erhöht. Sie wachsen so stark an, dass im Alter in aller Regel keine Ergänzungsleistungen mehr erforderlich sind. Damit sinkt auch die Gefahr, wegen einer geringfügigen Rentenverbesserung den Anspruch an Ergänzungsleitungen teilweise oder ganz zu verlieren, wie dies bei einer alleinigen Abschaffung oder Senkung des Koordinationsabzuges für viele Personen der Fall wäre.
Die folgende Grafik zeigt, wie das Denknetz-Modell funktioniert:
Das Denknetz-BVG-Reformodell: Die Beiträge der Versicherten und der Arbeitgebenden gelangen an die neue Zentralstelle, ebenso die Erträge aus dem Kapitalstock. Sämtliche Leistungen (Alters- und Invalidenrenten, Auszahlungen) erfolgen durch die Zentralstelle. Aus Steuermitteln werden überdies diejenigen Rentenanteile finanziert, die sich aus den neuen Betreuungsgutschriften ergeben. Diese werden analog zur AHV berechnet. Mit dem Modell wird der obligatorische Teil der BVG-Altersvorsorge erfasst. Die Verwaltung des Kapitalstockes erfolgt teilweise noch durch die bisherigen Vorsorgeeinrichtungen, die jedoch ihre Erträge auf dem obligatorisch ersparten Kapital an die Zentralstelle überweisen müssen.
Mit Ausnahme der Betreuungsgutschriften werden die Rentenansprüche nach wie vor basierend auf den einbezahlten Beiträgen berechnet, wie in einem Kapitaldeckungsverfahren. Das ist unerlässlich, um bestehende Rentenansprüche gewährleisten zu können.
Die künftigen Renten im obligatorischen Bereich sind gleich doppelt gesichert: Einerseits durch die laufenden Beiträge, andererseits durch die Erträge aus dem riesigen Kapitalstock. Dieser beläuft sich im Jahr 2020 im BVG-Obligatorium auf rund 550 Mrd CHF. Die Renten werden wesentlich gerechter, weil die neuen Beiträge für alle Versicherten dieselben Rentenleistungen begründen, und weil die Frauen dank den Betreuungsgutschriften endlich deutlich besser gestellt werden.
Eine genauere Beschreibung des Modells findet sich auf der Denknetz-Site unter Kurzverzison respektive die ausführliche Version. Der Einbau von Betreuungsgutschriften wird in einem separaten Text genauer erläutert.
Zum Autor: Beat Ringger ist Publizist und geschäftsleitender Sekretär des Denknetz von 2004 bis 2020.
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