Corona, Klima, Solidarität: Ein Drama in drei Akten
In der Corona-Krise wird gerade der erste Akt eines Dramas geschrieben, das sich aller Voraussicht nach tief in die Geschichte der Menschheit einprägen wird. In diesem ersten Akt verhängen die Regierungen massive Einschränkungen des gesellschaftlichen, politischen und ökonomischen Lebens mit dem Ziel, verletzliche Teile der Bevölkerung vor schwerer Krankheit und Tod zu schützen und der Gesundheitsversorgung vor dem Kollaps zu bewahren. Diese Einschränkungen werden von breiten Teilen der Bevölkerung als sinnvoll anerkannt. In diesem Sinn wird praktizierte Solidarität gerade stark aufgewertet. Dies kommt nach beinahe vierzig neoliberal geprägten Jahren einer überraschenden Wende gleich.
In den ersten Wochen des Auftretens von Sars-CoV-2 war noch nicht klar, wie gefährlich das neue Virus ist. Mittlerweile sind die Eckdaten zum Krankheitsverlauf besser bekannt. Sars-CoV-2 ist hoch ansteckend und führt etwa zehn Mal häufiger zum Tod als eine normale Grippe. Von einem schweren Krankheitsverlauf mit möglicher Todesfolge sind überwiegend betagte Personen mit Vorerkrankungen bedroht. Eine grosse Gefahr besteht nach allgemeiner Einschätzung in einer Überlastung oder gar einem Kollaps der Gesundheitsversorgung, sobald nicht mehr genügend kompetente Fachleute, Beatmungsgeräte und Plätze auf Intensivstationen verfügbar sind. Davon wären alle Patient*innen betroffen, die Intensivpflege brauchen, auch jene, die nicht Sars-CoV-2 -infiziert sind. Deshalb ist es vordringlich, so der allgemeine Konsens, die Verbreitung des Virus so lange wie möglich zu verzögern.
Weil in den letzten Wochen klar geworden ist, dass „nur“ ein tiefer Prozentsatz der Bevölkerung schwer erkranken wird, haben sich nun allerdings auch Stimmen erhoben, die strikte Massnahmen zur Pandemie-Eindämmung ablehnen und dabei die Kosten der Notstandsmassnahmen gegen die Folgen für COVID-19-Betroffene hochrechnen. Boris Johnson in Grossbritannien und Mark Rutte in den Niederlanden plädierten für eine erwünscht rasche Ausbreitung der Krankheit, um „Herdenimmunität“ zu erreichen. In der Schweiz äusserten sich Rainer Eichenberger und Roger Köppel in eine ähnliche Richtung. Doch unter dem Druck der Öffentlichkeit ist diese Strategie rasch kollabiert. Mittlerweile werden in praktisch allen betroffenen Ländern der Welt vergleichbar massive Einschränkungen des öffentlichen und wirtschaftlichen Lebens angeordnet.
Damit hat sich gerade – vielleicht eher intuitiv als analytisch –eine Politik durchgesetzt, die im Einklang steht mit den Menschenrechten, wonach der Schutz des Lebens von besonders verletzlichen Personen auch ein Schutz des Rechts auf Leben für alle bedeuten muss. Würde man es unterlassen, alles Erdenkliche zu tun, um das Leben der gesundheitlich besonders gefährdeten Menschen zu bewahren, dann würde das Grundlegendste aller Menschenrechte missachtet, festgehalten in Artikel 3 der allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948: „Jeder Mensch hat das Recht auf Leben, Freiheit und Sicherheit der Person“. Dieses Recht „ist die Vorbedingung der Ausübung aller anderen Menschenrechte und daher eine zentrale Garantie“, wie humanrights.ch auf ihrer Website zutreffend schreibt.
Um diese Solidarität zu ermöglichen, wird mit den Notstandsmassnahmen nun allerdings die wirtschaftliche und soziale Existenz einer grossen Zahl von Lohnabhängigen, selbstständig Beschäftigten und Kleinbetrieben in die Waagschale geworfen. Damit wird klar, dass jetzt rasch der zweite Akt des Dramas folgen muss. Die öffentliche Hand muss die Mittel bereitstellen, mit denen die existenziellen ökonomischen und sozialen Folgen dieser Notstandsmassnahmen aufgefangen werden können. Dabei sind Grössenordnungen erforderlich, wie sie 2008 für die Rettung der Banken zum Einsatz gekommen sind. Vergleichbare Summen werden denn auch allenthalben genannt. Stand 23.3.2020 wird in den USA ein Betrag von über 1000 Mia US$ genannt, will der schweizer Bundesrat 40 Mia CHF aufbringen, plant die deutsche Regierung ein entsprechendes Haushaltsdefizit von 156 Mia Euro und einen Fonds mit Staatsgarantie in der Höhe von 400 Mia Euro. Später muss dann allerdings geklärt werden, wer letztlich die Kosten dieser Solidarität zu tragen hat. Angesichts von dreissig Jahren neoliberaler Umverteilung von unten nach oben und angesichts der breiten Betroffenheit sind die Chancen durchaus intakt, dass es diesmal anders verlaufen wird und eine erhebliche Rückverteilung von oben nach unten durchgesetzt werden kann.
Unklar ist auch, in welchem Masse sich diese Solidarität über die jeweiligen nationalen Grenzen erstreckt. Es steht leider zu befürchten, dass einige Länder des globalen Südens von der Pandemie in besonders hohem Mass betroffen sein werden. Sehr verletzlich sind auch die Menschen in Krisengebieten wie in Syrien oder in Flüchtlingslagern, etwa auf den griechischen Inseln. Wird sich die Weltgemeinschaft aufrütteln lassen, wenn die Pandemie solche Zonen erfasst? Ein positives Zeichen wäre gesetzt: China und Kuba helfen im gegenwärtig am stärksten betroffenen Italien.
Offen ist zur Zeit auch, wie lange die faktische Stilllegung eines Grossteils des gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Lebens anhält. In China dauerte diese kritische Phase gute zwei Monate – in andern Ländern kann das aber durchaus auch länger gehen. Sieht man mal von der trivialen Feststellung ab, dass der Stress steigt, je länger der Ausnahmezustand anhält, lässt sich derzeit noch kaum absehen, wie sich die politischen und gesellschaftlichen Auseinandersetzungen entwickeln werden. Klar ist jedenfalls, dass die Corona-Krise auch eine Wirtschaftskrise ist. Allerdings sind noch nie in einer Wirtschaftskrise so rasch so entschiedene Gegen-Massnahmen ergriffen worden wie diesmal. Möglicherweise reicht dies aus, um einen scharfen Einbruch der Weltwirtschaft zu verhindern; möglicherweise wird nun aber auch die seit längerem erwartete Wirtschaftskrise ausgelöst, deren wahren Gründe ja jenseits der Corona-Pandemie liegen – etwa darin, dass die Verschuldung heute deutlich höher liegt als vor der Finanzkrise 2007/2008.
Jedenfalls wird der dritte Akt des Dramas am Ausgang der Corona-Pandemie geschrieben, wenn all jene sozialen, wirtschaftlichen und politischen Fragen zur Bearbeitung kommen müssen, die nun durch die Pandemie in ein scharfes Licht gerückt werden.
Dazu gehören an oberster Stelle die globalen Ungleichheiten. Werden nach Corona die globalen Beziehungen neu geordnet? Wird die Gesundheitsversorgung aller Menschen dieser Erde als globale Aufgabe verstanden und angegangen? Wird endlich entschlossen dafür gesorgt, dass – zum Bespiel – alle Menschen Zugang zur Trinkwasser haben?
Dazu gehört die Dimension des Care, der Sorge-Arbeit. Corona macht sichtbar, welch herausragende Rolle Pflege und Betreuung für das alltägliche Funktionieren einer Gesellschaft spielen. Deutlich wird dies zum Beispiel an den Kindertagesstätten, die ganz offensichtlich Teil eines öffentlichen Dienstes sein müssen. Entsprechend sollen sie reguliert und finanziert werden – anständige Löhne inklusive.
Dazu gehört die Klimakrise, die kurzzeitig aus den Schlagzeilen gedrängt worden ist, aber deswegen nichts von ihrer objektiven Bedeutung verloren hat. Die Bewältigung der Corona-Krise liefert den erlebten Beweis dafür, dass Gesellschaften auf Bedrohungen entschlossen und wirksam reagieren können; dass dabei auch Massnahmen auf breite Akzeptanz stossen, die tief in das Wirtschafts- und das Alltagsgeschehen eingreifen; und dass strukturelle Veränderungen auch in kurzer Zeit möglich sind, etwa wenn Teile der Industrie ihre Produktion flexibel auf jetzt benötigte Produkte umrüsten. Es ist eine Frage des Willens, nicht des Könnens. Dieser Wille muss auch zur Bewältigung der Klimakrise verfügbar werden.
24. März 2020 | Beat Ringger ist geschäftsleitender Sekretär des Denknetzes.