Beziehungsraum Schule – Bildung zwischen Freiheit und Kontrolle
04.04.2025 | Ein Kommentar zu Beziehungsraum Schule; Fitzgerlad Crain Kaufmann (Hrsg.) mit Beiträgen von Ruth Gurny, Karin Joachim, Luca Preite, Rebekka Sagelsdorff, ISBN 978-3-85990-561-0; Verlag: edition 8, Quellenstrasse 25, 8005 Zürich.
Es ist eine schwierige Zeit. Katastrophenmeldungen noch und nöcher – Krieg, Terror, Umweltkatastrophen, Flüchtlingselend, Abbau und Verfall demokratischer Institutionen, das Ausbleiben der politischen Vernunft: genügend Argumente für eine pessimistische Weltsicht. Dabei gibt es heute «so etwas wie ein Menschheitsschicksal» (Assmann, Aleida und Assmann 2024, 20). Damit ist in erster Linie die Erhitzung der Atmosphäre mit allen Folgeerscheinungen gemeint – ein Klimawandel, der zur Klimakrise geführt hat und zur allgemeinen Klimakatastrophe zu werden droht. Auch der globale Verlust an Biodiversität macht deutlich, dass es ein allgemeines Menschheitsschicksal gibt, das uns zusammenbringen sollte, so dass wir gemeinsam an einem globalen Projekt konstruktiver Umwelt- und Lebensgestaltung arbeiten könnten. Stattdessen machen wir das Gegenteil. Der Nationalismus wird stärker, America first, heisst es in den USA, und auch in der Schweiz sind diese nationalistischen Stimmen zu hören. Statt auf Krieg zu verzichten (was möglich und vernünftig wäre) rüsten wir weltweit auf und leugnen, dass eine Aufrüstungsspirale irgendwann in einen grossen Krieg münden wird, der mit höchster Wahrscheinlichkeit atomar geführt wird. Statt Erdöl und Kohle im Boden zu lassen, heisst es «drill, Baby, drill.»
Was hat das nun alles mit Bildung und Schule zu tun? Sehr viel, da es um eine allgemeine Beziehungsfrage geht. Im ersten Teil unseres Buches, im Kapitel «Beziehungsraum Schule», nehme ich eine Richtung in der politischen Philosophie und Psychologie auf, die in den 1970er- und 1980er-Jahren besonders einflussreich war. Der politisch-philosophische Diskurs war geprägt von der «Kritischen Theorie», einer kritisch-marxistischen Richtung in den Sozialwissenschaften. Bekannte Namen sind Theodor Adorno, Max Horkheimer, Herbert Marcuse oder Erich Fromm; in der heutigen Zeit Alex Honneth, Eva Illouz oder Hartmut Rosa.
Die These von Erich Fromm lautet, dass wir eine kapitalismuskritische Beziehung zur Welt, zu anderen, zur Umwelt, zur Natur und zu uns selbst entwickeln müssten – eine andere «Weltbeziehung», so Hartmut Rosa (2016). Es wäre eine Beziehung, die das «Sein» fördert, das «Haben» reduziert. «Haben oder Sein», lautet der Titel eines Buches von Erich Fromm, 1976, wenige Jahre vor seinem Tod herausgekommen. Mit den Begriffen «Haben» und «Sein» schliesst er an Marx an, der für das Sein und gegen das Haben argumentiert hat. In unserem Buch geht es um Sein und Haben im Bereich von Schule, Ausbildung und Bildung. Das Unterrichtsgeschehen kann als beispielhaft für ein umfassenderes Verständnis von menschlicher und gesellschaftlicher Entwicklung gesehen werden. Die Analyse von Beziehungen im Mikrokosmos Schule dient als Beispiel für das Verständnis des Makrokosmos Gesellschaft.
Kinder gehen in die Schule, um ausgebildet zu werden. Sie erwerben die für das berufliche, soziale und politische Leben notwendigen und also nützlichen «Kompetenzen.» Bildung aber, und darum geht es uns Autor:innen, geht über die Ausbildung hinaus. Bildung meint zum Beispiel eine besondere und ganz individuelle Beziehung der Schüler:innen zum Gegenstand des Lernens. Ein Beispiel soll das verdeutlichen. Eine Schülerin der Sekundarschule setzt sich mit dem Schulstoff – einem Text, einer Mathematikaufgabe, einer Fremdsprache, einer gestalterischen Aufgabe – auf ihre individuelle Art auseinander. So bekommt sie die Aufgabe, einen Text zu «Aschenputtel» zu schreiben. Die Schülerin ist nun im optimalen Fall angetrieben vom Wunsch zu verstehen, sich mit dem Thema auseinanderzusetzen, weil sie neugierig ist, weil sie das Gefühl hat, etwas selbständig bewirken zu können und weil diese Erfahrung befriedigend ist. Im besten Fall entsteht eine Beziehung zum «Gegenstand», der dann kein unlebendiger Gegenstand mehr ist. Es handelt sich vielmehr um eine «antwortende Beziehung» (Hartmut Rosa). Das Märchen «antwortet» auf die Schülerin, das Unterrichtsthema verändert sich in der Auseinandersetzung und wird für die Schülerin lebendig. Indem sie diese Aufgabe als etwas Persönliches und Lebendiges erfährt, verändert sie sich auch selbst; sie wird im optimalen Fall bereichert.
Das alles geschieht nicht von selbst. Es braucht die Grundlage der Ausbildung. Es braucht Übung und Durchhaltewillen. Es braucht nicht zuletzt Zeit: eine Zeit des Suchens, eine Zeit möglicher Irrwege. Verschiedene Lösungswege müssen überprüft werden. Der Psychologe Daniel Kahneman (2012) unterschied zwei Arten von Denken: Ein schnelles Denken, wenn wir vor eine Aufgabe gestellt sind, die eine rasche Lösung verlangt. Dann stehen uns bestimmte Denkmuster zur Verfügung, die wir in unserer Sozialisation erworben haben. Kahnemann spricht von Heuristiken. Das Problem ist, dass es allzu oft verzerrte Wahrnehmungen sind. Wenn wir dieses schnelle Denken pflegen, dann denken wir tendenziell in einfachen Gegensatzpaaren: «Das ist gut, das ist schlecht», «das ist brauchbar, das ist unbrauchbar.» Wir differenzieren nicht. Wir kommen deshalb immer wieder auf ungeeignete Lösungen und werden der Komplexität vieler Problem nicht gerecht. Es braucht deshalb, so Kahneman, Zeit und Raum, um Sachverhalte in einem Akt des «langsamen Denkens» kritisch zu prüfen, um verschiedene Lösungsansätze anzuschauen und Pro und Contra abzuwägen. Vielleicht erkennen wir dann, dass es keine einfache Lösung gibt, dass alles zwei oder mehr Seiten hat. Es braucht, im Unterricht, also Zeit. Es darf nicht alles immer schnell gehen. Es braucht ein Bekenntnis auch zu Langsamkeit.
Der Lehrplan 21 spricht von überfachlichen Kompetenzen und versteht darunter zum Beispiel die Fähigkeit zu reflektieren, das heisst also eben nicht, schnell zu reagieren, sondern nachdenklich zu sein und eine Sachlage so objektiv wie möglich zu untersuchen. Reflektionsfähigkeit aber beinhaltet auch Selbstreflexion. Wir müssen uns unserer eigenen Prämissen bewusst werden. Die Schülerin lernt mit der Zeit, selbstkritisch zu werden – und sie entdeckt in diesem auf Nachdenklichkeit angelegten Unterricht vielleicht Seiten an sich, die ihr neu sind und die ihr unter Umständen auch nicht gefallen.
In unserer idealen Schule wären Momente des individuellen und gemeinsamen Suchens und Forschens möglich, sie wären ein Ziel des Unterrichts, wozu es eine menschliche Beziehungsebene braucht, die auf Gegenseitigkeit angelegt ist. Das hat mit Gleichheit zu tun, da Kind und Lehrperson beide am Prozess des Lernens interessiert sind. Aber sie sind insofern nicht gleich, als Lehrperson und Kinder unterschiedliche Rollen besetzen.
Dazu wäre noch viel zu sagen. Zur Auswahl der Fachgebiete und zur Gewichtung der Fächer, zu Noten und vergleichenden Leistungstests, zur Bedeutung von Kooperation, zu demokratischer Mitgestaltung und anderem mehr. Die Schule, die wir uns idealerweise vorstellen, wäre eine demokratische Schule und sie wäre eine integrative Schule. Geschichte würde als Fach eine zentrale Rolle spielen. Künstlerische Fächer wären sehr bedeutsam, da sie dazu anregen, die Umwelt als lebendig zu verstehen und weil der Nützlichkeitsgedanke in Frage gestellt wird. Wichtig ist Literatur, weil sie dazu anregt, die Welt als vielfältig und herausfordernd zu erfahren, was wiederum die Reflexionsfähigkeit stärkt. Und es wäre eine kooperative Schule, in der es primär um die Förderung der individuellen Fähigkeiten auch in der Zusammenarbeit mit anderen ginge und weit weniger um den Vergleich der Kinder und die Orientierung an Noten und Normen.
Das Beispiel der Schülerin erinnert an die Reformpädagogik und lässt uns weniger an die öffentliche Schule von heute denken. Um die öffentliche Schule aber geht es den Autor:innen des Buchs. Die kritische Frage an die öffentliche Schule lautet: Wie steht es mit der Kooperation, womit eine Beziehung gemeint ist, die mehr ist als eine soziale «Kompetenz», die gar noch gemessen werden könnte? Kooperation setzt Empathie und vor allem Reflexivität und Selbstreflexion voraus. Die kritische Frage lautet: Kooperative Fähigkeit wird heute explizit als Ziel des Unterrichts genannt. Ist der alltägliche Unterricht aber nicht tendenziell durch eine alles durchdringende Konkurrenz geprägt? In meinem Verständnis ist der Mensch grundsätzlich bezogen auf andere. Wir entwickeln uns in der Beziehung zu anderen, wir sind Beziehung. Die Beziehungsdimension ist entscheidend, sie ist zugleich aber nicht messbar. Wie geht dies zusammen mit der Beobachtung, dass heute fortwährend gemessen und gerankt wird – weil wir in einer entsprechenden Leistungsgesellschaft leben, in der der Kampf aller gegen alle propagiert wird, so argumentieren die Einen. Weil es gerecht ist, so die eher linke Position. Wie steht es mit der Beziehungsdimension, wenn in einer immer mehr digitalisierten Schule die Lehrperson zunehmend in den Hintergrund tritt, wenn nicht mehr die Lehrperson das Feedback gibt, sondern ein Algorithmus entscheidet? Wie steht es mit der Schule als öffentlicher Institution in einer Welt, in der die Bildungsinstitutionen zunehmend privatisiert werden? Bildung wird so zu einer Ware, die wie alle anderen Waren gekauft und verkauft werden kann.
Die Schule als Beziehungsraum, wie sie im Idealfall dargestellt wird, existiert – als öffentliche Institution – nicht. Unter den Verhältnissen des Kapitalismus kann sie das auch nicht. Die alltägliche und umfassende Vermessung der Leistung, der Aspekt der blossen Nützlichkeit, die Idee der Herrschaft über die Natur und damit eine umfassende Kontrolle kennzeichnen den kapitalistischen Aspekt der Schule. Ich befürchte, dass sich die Ökonomisierung der Bildungsinstitutionen mehr und mehr bemächtigt. Aber das ist nicht die ganze Wahrheit. Es gibt immer wieder Ansätze zu einem Unterricht, in dem die Selbstwirksamkeit aller Kinder gefördert wird, in dem Kooperation und Teamfähigkeit wichtig sind. Das Buch zeigt auf, was einen Beziehungsraum kennzeichnet, in dem Kinder und Lehrpersonen in einem auf Freiheit und Gemeinsinn ausgerichteten Sinn – im Hinblick auf den Modus des «Seins» – unterrichtet werden. Das Buch weist aber auch auf eine dieser Beziehungsform entgegengesetzte Beziehungsdimension des «Habens» hin, die durch Konkurrenz, emotionale Distanzierung, durch Kontrolle und Herrschaft gekennzeichnet ist. Denn ein Unterricht, in dem die Lehrpersonen alles fortwährend bewerten, ist ein Herrschaftsverhältnis.
Die Schule unter den aktuellen gesellschaftlichen Verhältnissen ist deshalb grundsätzlich eine Schule im Widerspruch. Davon müssen wir ausgehen. Die öffentliche Schule muss diese Begrenzungen annehmen. Aber sie darf dies nicht in kritikloser Anpassung an die gegebenen Verhältnisse tun. Das Buch ist ein Plädoyer für eine kritische und immer auch selbstkritische Analyse der Institution Schule. Ein Plädoyer auch für Möglichkeitsräume, die genutzt und ausgeweitet werden müssen.
Autor | Fitzgerald Crain war Dozent an der Universität Basel und Professor an der Pädagogischen Hochschule der Fachhochschule Nordwestschweiz mit dem Schwerpunkt psychoanalytische Pädagogik und Praxisberater in Kinder- und Schulheimen.
Literatur
Assmann, Aleida und Assmann, Jan (2024). Gemeinsinn: Der sechste, soziale Sinn, München . H. Beck.
Fromm, Erich (1980). Haben oder Sein. Die seelischen Grundlagen einer neuen Gesellschaft. In: Gesamtausgabe, Band 2. Analytische Charaktertheorie. S. 269 – 414. Stuttgart: Deutsche Verlags-Anstalt.
Kahnemann, Daniel (2012). Schnelles Denken, langsames Denken. München: Siedler.
Rosa, Hartmut (2016). Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung. 2. Aufl. Berlin: Suhrkamp.