Andreas Rieger

Diskussion

Aufstieg und Niedergang der Sozialdemokratie und der Parteien links von ihr
13.09.2022   |   Die Sozialdemokratie hat in Europa in den letzten Jahrzehnten massiv an Gewicht verloren. In einigen Ländern ist sie für «tot» erklärt worden. Immer wieder war vom «Ende des sozialdemokratischen Zeitalters» die Rede. Verwundert wird jetzt jedoch konstatiert, dass Sozialdemokratische Parteien in einigen Ländern wieder zulegen. Parteien links der Sozialdemokratie versuchten vielerorts den freiwerdenden Raum auszufüllen. Dies gelang in einigen Ländern, in anderen erlitten sie ebenfalls Verluste. Weit verbreitet ist die Einschätzung, dass die jüngst erfolgreichen Grünen Parteien die Sozialdemokratie und die Parteien links von ihr verdrängt; oder aber den freiwerdenden Raum besetzt haben. Aber dies trifft nur auf wenige Länder zu. Wie sind diese Entwicklungen der linken Parteikräfte zu verstehen?

1. «Ende des sozialdemokratischen Zeitalters»?

Die Sozialdemokratischen Parteien haben in Westeuropas nach dem 2. Weltkrieg gute Zeiten erlebt. Sie erhielten in vielen Ländern 30% bis über 40% der Wählerstimmen, hatten Hunderttausende Mitglieder und stellten manchmal alleine Regierungen oder führten Koalitions-Regierungen an. Namen wie Willy Brandt und Olaf Palme stehen für diese Zeit. Aber dennoch gab es in den Jahrzehnten nach dem 2. Weltkrieg in Westeuropa faktisch gesehen kein «sozialdemokratisches Zeitalter». Das Bürgertum organisierte seine politische Macht meist über die Konservativen resp. christdemokratischen Parteien. Diese stellten die Mehrheit der Regierungen in Westeuropa1. Sozialdemokratische Regierungen waren die Ausnahme, sie überdauerten – abgesehen von Schweden – meist nicht lange. Wenn schon müsste man für die 1950er bis 80er Jahre von einem «christdemokratischen Zeitalter» sprechen. Diese Parteien mussten zwar Elemente aus den traditionellen SP-Programmen übernehmen, insbesondere beim Ausbau der Sozialversicherungen. Sie mussten zur Modernisierung, um die Weiterentwicklung des Kapitalismus zu sichern, den Staat ausbauen (Bildung, Gesundheit, Infrastrukturen). Aber sie betrieben damit keine im eigentlichen Sinne sozialdemokratische Politik: Sie bediente vor allem die Interessen des Kapitals und des Bürgertums. Gesellschaftspolitisch waren sie meist konservativ. Ab den 1990er-Jahren begann sodann das «neoliberale Zeitalter», das fast alle Parteien prägte.
Aber auch wenn die vorangegangenen Jahrzehnte kein «sozialdemokratisches Zeitalter» waren, ist die Schwächung des politischen Gewichts der Sozialdemokratischen Parteien in den letzten zwei Jahrzehnten doch massiv. Die Wähler:innenanteile sind geschrumpft, die Gruppe der «starken» nationalen Sozialdemokratien hat – mit wenigen Ausnahmen – nur noch Wähler:innenanteile zwischen 20% und 30%. In einigen anderen Ländern, wo die Sozialdemokratie noch bis zum Millennium stark war, ist sie auf weit unter 10% abgestürzt (Frankreich, Griechenland, Niederlande, …). Die Anzahl eingeschriebener Mitglieder wurde dezimiert, in einigen Ländern ist die Sozialdemokratische Partei zu einem reinen Wähler:innenverein geworden. Dies hat viele dazu geführt, vom «Tod» der Sozialdemokratie zu sprechen. Auch wenn Totgesagte oft länger leben, ist offensichtlich: Die Sozialdemokratie steckt in einer Krise. Was sind die Erklärungen dafür?
Erschöpfung der Sozialdemokratischen Mission?
Die Rede vom «Ende des Sozialdemokratischen Zeitalters» stammt von Ralf Dahrendorf. Der sozial-liberale Soziologe konstatierte, dass viele der Hauptforderungen, welche die Sozialdemokratien nach dem 2. Weltkrieg gestellt hatte, in den 1980er-Jahren verwirklicht worden seien: Altersrenten, Kranken- und Arbeitslosenversicherungen, Mutter- und Elternurlaub, etc. Die Spannkraft der Sozialdemokratie erschöpfte sich laut Dahrendorf, sie wurde zum «Opfer ihres eigenen Erfolgs». Diese Erklärung wird oft übernommen (auch von Piketty). Aber der starke Niedergang der Sozialdemokratie erfolgt in den meisten Ländern erst nach den Krisen der 1990er- und der 2000er-Jahre, welche mehrheitlich zu einem Stopp des Sozialausbaus führten und zu einer massiven Zunahme von Armut und Prekarität. Die Erhöhung der Einkommen der unteren und mittleren Schichten, eine der Hauptforderungen der Sozialdemokratie, stockte spätestens seit den 1990er-Jahren, trotz fortgesetztem Wirtschaftswachstum. Dass sich die traditionellen Hauptforderungen der SP erschöpft hätten, entspricht deshalb nicht der realen sozialen Situation der letzten zwei Jahrzehnte, wo für breiteste Schichten soziale Probleme wieder akut wurden.
Erosion der sozialen Basis
Eine ebenfalls ständig wiederkehrende Erklärung ist das Schwinden der traditionellen sozialen Basis der Sozialdemokratie. Die Industriearbeiterschaft verschwinde, moderne Angestellte und Selbständige würden neu eine grosse Mittelschicht bilden. Diese Erklärung hat eine gewisse Plausibilität: Die traditionellen sozialkulturellen Arbeitermilieus, in denen die Linke stark war, sind erodiert und damit sind «Transmissionsriemen» der SP weggefallen (Arbeiter-organisationen für die Freizeit, für Kultur, Sport, …). Aber dennoch gibt es nach wie vor die unteren sozialen Schichten, welche lohnabhängig sind, welche in der Gesellschaft geringere Ressourcen haben. Und viele in den Mittelschichten wissen, dass sie zunehmend von Abstieg und Prekarisierung bedroht sind. Zudem sind viele qua Geschlecht oder Nationalität diskriminiert. Die Interessen dieser Schichten (je nach Klassenanalyse 40% bis 60% der Gesellschaft2) in der Politik zu vertreten ist und bleibt weiterhin ein grosses Potential für die Sozialdemokratie, das sie jedoch nur in einem Teil der Länder realisiert.
Niedergang der grossen «Volksparteien»
Parallel zur Schwächung der Sozialdemokratie erfolgt auch jene der Konservativen und der christdemokratischen Parteien. Diese hatten nach dem 2. Weltkrieg 30 bis 50% der Wählerstimmen auf sich gezogen – heute sind es im besseren Falle noch 20 bis 30%. Einzelne historische Parteien wie die Democrazia Cristiana in Italien sind vom Erdboden verschwunden. Eine Erklärung dafür ist – wie bei der Sozialdemokratie – das Schwinden der kulturellen Sozialmilieus. Seien es die religiösen Milieus und die Verbindung mit der Kirche, oder die ländlichen Milieus, in welchen die Konservativen früher oft weit über 50% der Stimmen auf sich vereinen konnten. Zudem ist die konservative Gesellschaftsideologie erodiert, welche diesen Parteien einen ideellen Kitt gegeben hatte. Allgemeiner kann man sagen, dass die zunehmende soziale Ausdifferenzierung resp. Individualisierung in Europa und der Bedeutungsverlust der grossen Familien der Weltanschauungen die Integrationskraft gerade auch der christlich-demokratisch/konservativen Parteien reduziert haben. «Tot» sind die Christdemokraten in den meisten Ländern deswegen aber noch nicht. Auch sie haben weiterhin eine soziale Basis in den Mittel- und Oberschichten und in ländlichen Gebieten. Sie führen in der Mehrheit der Länder weiterhin die Regierungen an, wenn nun dazu auch oft mehrere Koalitionspartnerinnen nötig sind.
Vormarsch der Grünen
Verdrängten die Grünen die Sozialdemokratie, wie oft aufgeführt wird? Den Mainstream-Medien im deutschen Sprachraum folgend könnte man denken, dass die Grüne Welle ganz Europa prägt, während gleichzeitig die SP überall verliert. Dies ist jedoch nicht der Fall. Anteile von über 10% stellen die Grünen derzeit nur in Deutschland, Österreich und der Schweiz, sowie in Belgien, Luxemburg und Finnland. In Frankreich vermochten die Grünen zwar bei den letzten Europa-Wahlen 13% zu erreichen, national liegen sie jedoch kaum über 5%. Im unteren einstelligen Bereich liegen die Grünen in den meisten anderen Ländern. Durch die «Grüne Welle» können also die Verluste der Sozialdemokraten nur in wenigen Ländern erklärt werden.
Neoliberale Politik
Der wichtigste Grund für die Verluste der Sozialdemokratie ist ihre neoliberale Wende ab den 1990er-Jahren. Wirtschaftspolitisch waren die Sozialdemokratischen Parteien bis dahin keynesianisch orientiert. Aber ab den 1990er-Jahren erfasste neoliberale «Revolution» von Thatcher und Reagan Schritt für Schritt auch die Spitzen der Sozialdemokratie. Prominent waren erst die Regierungen Tony Blair und Gerhard Schröder, nach dem Crash der Finanzwirtschaft folgten 2010 fast alle damals an der Macht stehenden SPen und realisierten eine harte Austeritätspolitik, von der PASOK über die Parti Socialiste France zur Arbeiterpartei der Niederlande, u.a.m. Sie mussten dies alle bei den nächstfolgenden Wahlen hart bezahlen. 2016 gab es kaum mehr ein Land in Europa mit sozialdemokratischer Regierung. Und die Mitgliederzahlen schmolzen in dieser Zeit wie der Schnee an der Sonne. Hier zeigt sich, dass die Sozialdemokratie nicht niederging, weil sich ihre Forderungen erfüllt hatten, sondern weil sie ihre eigenen Errungenschaften und Forderungen mit Füssen getreten hatte. Umgekehrt zeigte sich in den letzten Jahren, dass sich Sozialdemokratische Parteien auffangen können, indem sie die sozialen Fragen ins Zentrum stellten. In Spanien/Portugal, in Nordeuropa und zuletzt in Deutschland konnten sie den Niedergang stoppen, indem sie wieder auf klassische Inhalte zurückgriffen: Mindestlöhne, Renten, soziale Infrastrukturen, … Um aber die neuen unteren Schichten wieder zu gewinnen, braucht es noch viele weitere Efforts.
Aufschwung der rechtsnationalen und rechtsextremen Kräfte
Eine weitere These ist, dass den Sozialdemokratien massenhaft Mitglieder und Wähler:innen hin zu der äusseren Rechten davongelaufen sind. Richtig ist sicher, dass die antisoziale Politik vieler sozialdemokratischen Regierungen den Rückhalt ganz besonders in den unteren Schichten schmelzen liess. In diesen Schichten entstand ein Vakuum, welches rechtsnationale Kräfte mit sozialdemagogischen und xenophoben Politiken auszufüllen begannen. Dass aber massenhaft sozialdemokratische WählerInnen nach Rechtsaussen übergelaufen wären, stimmt gemäss den meisten Nachwahlbefragungen nicht. Die meisten Verluste entstanden dadurch, dass enttäuschte sozialdemokratische WählerInnen nicht mehr an die Urnen gingen. Und zudem waren viele SPen unfähig, neu entstehendes Protestpotential (gegen die Eliten, gegen die Globalisierung, etc.) in unteren Schichten zu integrieren. Wo der SP in letzter Zeit überraschende Wahlerfolge gelungen sind, wie kürzlich in Deutschland und in Portugal, ist dies wesentlich der erneut starken Mobilisierung auch von vorher «Abstinenten» zu verdanken.
Neoliberale Transformation im Osten
Eine besondere Erklärung erfordert die Entwicklung in den mittel- und osteuropäischen Ländern. Nach der Wende von 1989/90 hofften die europäischen SPen, sie könnten im grossen politischen Vakuum als demokratisch-sozialistische Kraft einen grossen Wähler:innenanteil gewinnen. Dies gelang in ersten Parlamentswahlen in mehreren Ländern. Die überstürzte Transformation der früheren Staatswirtschaften in «freie Marktwirtschaften» lief dann aber über eine brutale neoliberale Schocktherapie, an welcher sich – mit freundlicher Unterstützung von Schröder, Blair & Co – auch die Ost-SPen beteiligten3. Zum Parteiaufbau griffen die Sozialdemokraten zudem oft auf Kader der alten KPen zurück, was zur weiteren Dis-kreditierung beitrug. Trotz viel «Entwicklungshilfe» zum Aufbau und Stärkung von Sozialdemokratischen Parteien in Mittel- und Osteuropa (u.a. über die Friedrich-Ebert- Stiftung) ist das Resultat für die Sozialdemokratie heute desaströs. In den meisten Ländern von Mittel-/Osteuropa gibt es keine (stabile) Linke mit einen Wähler:innenanteil von mehr als 10%. Wie ein Mühlstein hängt diese Schwäche der europäischen Sozialdemokratie am Hals. Ausnahmen mit höheren Wähler:innenanteilen sind nur Slowenien und Rumänien (wo die SP die Austeritäts-Politik nicht mittrug und populär blieb; dann aber wegen Korruption verlor).
Integration in den Staatsapparat und Korruption
Ein wichtiger Grund für Verluste der Sozialdemokratie ist schliesslich ihre Anpassung im bürgerlichen Staatsapparat. Einmal länger an der Regierung veränderte sich meist der Charakter der Partei: Sie passte sich an die «Sachzwänge» des Status quo an (bestehende Regulierungen, Budgetspielraum, … ). Sie wurde attraktiver für Karrierist:innen, welche wichtige Posten besetzten. Am Schluss unterscheidet sich eine solche Sozialdemokratie nicht mehr gross von ihrer christlich-demokratischen Konkurrenz und kann für die Wiederwahl nicht mehr mobilisieren. Ein Teil der Basis bleibt der Urne fern oder wählt andere Parteien, solange sich die SP nicht als Alternative positioniert. So erging es der Sozialdemokratie in vielen Ländern. Schliesslich sind solche SPen auch anfällig für schlimmste Korruption. Dies war ein Hauptgrund für das Ende der Sozialdemokratischen Parteien in Italien und in Griechenland und für die Abwahl von Regierungen in Portugal und in Rumänien.

2. Beispiele der SP-Entwicklung in einzelnen Ländern

Frankreich, Griechenland, Niederlande
Den schlimmsten Absturz einer einst stolzen sozialistischen Partei erlebte Frankreich. Der Niedergang begann schon kurz nach dem fulminanten Wahlsieg, den François Mitterand 1981 mit einem links-keynesianischen Programm erreichte. In den Parlamentswahlen machte die PS damals 36% der Stimmen und errang damit die absolute Mehrheit im Parlament. Mitterand schminkte das linke Programm aber schon bald unter dem Druck des vereinten internationalen und französischen Kapitals ab. Ab 1984 führte die Regierung der PS eine Austeritätspolitik. 1986 verlor die Partei die Parlamentswahl und musste die Regierung abgeben (auch wenn Mitterand noch Präsident blieb). Es folgte eine Zeit der Alternanz mit den Bürgerlichen. Bei den letzten erfolgreichen Wahlen, welche 2012 François Hollande die Präsidentschaft und die absolute Mehrheit im Parlament sicherte, hatte die PS noch 29% Wähler:innenanteil. Hollande hatte das Pech, voll in der Austeritätsphase der EU zu landen. Er trug diese Politik glücklos mit, was die Partei völlig diskreditierte. 2017 erreichte sie bei den Parlamentswahlen noch einen Viertel (!) der Stimmenanteile von 2012, nämlich 7%. Bei den Europäischen Wahlen 2019 waren es dann noch 6%, bei den Präsidentschaftswahlen anfangs April 2022 nicht einmal mehr 2%! Über die Frage, ob die Partie Socialiste mit dem Bündnis NUPES an der zweiten Runde der Legislativwahlen teilnehmen solle, kam es erneut zu einer Spaltung. Die PSF hat heute gerade mal noch etwa 20‘000 zahlende Mitglieder – 2008 waren es noch zehnmal mehr gewesen. In Frankreich scheiterte die Sozialdemokratie zweifellos weniger aufgrund von Veränderungen in der Sozialstruktur als vielmehr wegen einer Politik, welche der eigenen Wählerschaft flagrant ins Gesicht schlug.
Einen ähnlichen Absturz provozierte die Sozialdemokratie mit ihrer Politik in Griechenland, wo die PASOK von 43% Wähler:innenanteil im Jahre 2009 auf noch 5% im Jahre 2015 (resp. 8% 2019) eingebrochen ist. Auch sie ist sowohl über das Mittragen der Austeritätspolitik als auch über die Korruption (klientilistisches System der Staatsbesetzung) gestürzt.
Schliesslich auch die Partei der Arbeit in den Niederlanden: In ihren besten Zeiten (1970er und 80er Jahre) hatte sie um die 30% Wähler:innenanteil. 2012 war sie mit 25% die stärkste Partei und konnte eine Koalitionsregierung anführen. Auch sie fuhr eine so harte Austeritätslinie, dass die Partei innert Kürze Dreiviertel ihrer Gefolgschaft verlor (2017 noch 6% Wähler:innenanteil).
Spanien und Portugal
Die PSOE hatte in Spanien in den Jahren 2004 und 2008 über 40% der Stimmen erreicht und unter Zapatero die Regierung gestellt. Die nach der Finanzkrise unter dem Druck der EU/Troika durchgeführte Austeritätspolitik brach der Regierung jedoch 2011 das Genick und die PSOE schien im freien Fall: 2015 machte sie noch halb so viele Stimmen wie 2008, nämlich 22%. In der gleichen Zeit sank die Mitgliedschaft der PSOE von 600‘000 (2004) auf 200‘000 (2016). Die reaktionäre Partido Popular kam wieder an die Regierung und Mariano Rajoy setzte die unpopuläre Austeritätspolitik fort. Gleichzeitig kam die skandalöse Parteikorruption der PP ans Tageslicht, die Partei stürzte ab und die Chancen der Linken stiegen wieder. In der PSOE kam es zum Machtkampf, ob eine linkere Politik verfolgt und mit Podemos eine Regierungskoalition gebildet werden solle. Pedro Sanchez gewann diesen Kampf gegen die rechten Sozialdemokraten. Unter seiner Führung wurde die PSOE in den Wahlen von 2019 mit 28% zur stärksten Kraft und konnte – nach einigem Zögern – zusammen mit Podemos eine linke Minderheitsregierung bilden (gestützt durch kleine autonomistische Parteien). Trotz unpopulären Corona-Massnahmen der Regierung scheint der Wähler:innenanteil der PSOE derzeit stabil zu sein und die Regierung macht sich u.a. daran, den völlig prekarisierten Arbeitsmarkt zu re-regulieren (allerdings ist die PP daran, sich zu erholen und überflügelt derzeit in Umfragen die PSOE).
Eine ähnliche Entwicklung hat Portugal erlebt: 2005 bis 2011 stellten die Sozialisten unter Ministerpräsident José Socrates nach Wahlerfolgen mit 45% und 37% die Regierung. 2011 stürzte diese wegen ihrer Austeritätspolitik und wegen Korruption auf 28% ab. Während der Troika-Zeit war die bürgerliche PSD an der Regierung. 2015 gelang der PS mit Antonio Costa und einem sozialen Programm ein Wahlsieg mit 32%, der aber alleine nicht zur Regierungsbildung reichte. Costa war bereit, mit den drei kleineren Parteien links der PS (KP, Bloque de Izquierda, Grüne) Unterstützungsvereinbarungen einzugehen, welche lange Bestand hatten. Die Regierung betrieb eine moderat soziale Politik und profitierte von der Gunst der Stunde: wirtschaftlicher Aufschwung nach der Krise, EU-Investitionspaket. Bei den Wahlen im Januar 2022 prognostizierten Umfragen einen Umschwung zugunsten der Rechten. Dies führte zu einer starken Mobilisierung der SP-Wählerschaft und zum «Nützlich-Wählen» bei vielen linkeren Wähler:innen. Mit fast 42% der Stimmen hat die PS nun das absolute Mehr im Parlament – eine einmalige Situation in Europa.
Italien
Die machtpolitisch dominierende Partei in Italien war in der ganzen Nachkriegszeit die Democrazia Cristiana (DC). Aber der DC sass eine so starke Linke im Nacken wie kaum in einem anderen Land in Europa. Die Partito Comunista Italiano (PCI) war damals die stärkste linke Partei Europas, mit über 2 Millionen Mitgliedern und bis über 30% der Wählerstimmen. Die sozialdemokratische Partei Italiens, die PSI, kam daneben noch auf 10 bis 15% Wählerstimmen. Die PSI war stramm anti-kommunistisch – eine Volksfrontregierung zusammen mit der PCI war für sie undenkbar. Stattdessen beteiligte sich die PSI lieber an Regierungen, welche von der DC angeführt wurden. In den 1980er-Jahren stellte sie auch – obwohl Minderheitspartei – zweimal den Ministerpräsidenten, Bettino Craxi. Die Partei konnte durch die Regierungsbeteiligung (auch in den Regionen) viele Staatsposten besetzen und wurde für Karrierist:innen immer attraktiver. Die Korruption brach der PSI schliesslich das Genick: 1992 flog das Bestechungssystem Tangentopoli auf (an dem PSI-Exponenten prominent beteiligt waren), 1993 ging die Partei beinahe bankrott, da die schwarzen Geldquellen versiegt waren. 1994 hatte sie noch 2% der Wählerstimmen. Craxi floh ins Exil nach Libyen. Einige Reste der PSI retteten sich in die neu gegründete Partito Democratico della Sinistra (PDS), in dem sich die Mehrheit der frühren PCI organisiert hatte. Ähnlich wie die PSI implodierte in dieser Zeit auch die Democrazia Cristiana.
Ab 1995 bildeten die Nachfolgeorganisationen der PCI die eigentliche Sozialdemokratie in Italien (auch wenn es bis zur Anerkennung durch die offizielle europäische Sozialdemokratie noch einige Jahre dauern sollte). Aber schon früher hatte die PCI in den «roten» Regionen (Bologna u.a.) wie eine sozialdemokratische Partei regiert. Zu Beginn war die Partito Democratico della Sinistra (PDS) mit 33% Wählerstimmen im Jahre 2008 elektoral sehr erfolgreich. Um an die Regierung zu kommen orientierte sich die PDS aber immer mehr nach rechts und fusionierte mit Resten aus der versprengten Democrazia Cristiana zum Partito Democratico PD4. Dies gipfelte schliesslich darin, dass Matteo Renzi 2014 an die Spitze der PD treten und eine Regierung anführen konnte. Ein Politiker notabene, der nie ein Sozialist oder auch nur Sozialdemokrat gewesen war. Die Regierung brillierte durch eine Liberalisierung des Arbeitsgesetzes (Job Acts) und durch weitere unpopuläre «Modernisierungen», stürzte aber schon bald wieder. Die PD verlor in den darauffolgenden Wahlen massiv und schaffte noch 19% der Wählerstimmen. In den letzten Jahren war die PD Teil verschiedener Grosser Koalitionen (zuletzt unter Ministerpräsident Draghi) und dümpelt um die 20 bis 22% Wählerprozente. In den Wahlen vom 25. September tritt die PD im Bündnis mit der linkeren Sinistra Italiana und den Grünen an, auf einer Plattform, welche wieder vermehrt soziale und ökologische Fragen in den Vordergrund stellt. Ein breites Bündnis sämtlicher progressiven Kräfte vermochte die PD jedoch nicht schaffen, sodass für die nächsten Jahre eine deutliche rechte Mehrheit wahrscheinlich ist.
Deutschland
Die deutsche Sozialdemokratie ist historisch die einflussreichste und grösste Partei in ihrer Familie. 1 Million Mitglieder zählte sie 1976. 1998 erreichte die SPD mit einem relativ linken Programm den Wahlsieg mit 41%. Sie bildete unter Gerhard Schröder eine Koalitions-regierung mit den Grünen. Bereits nach einem Jahr kam es zur neoliberalen Wende, Finanz-minister Oskar Lafontaine und sein Staatssekretär Heiner Flassbeck verliessen die Regierung, welche nun nach der Pfeife der Finanzwirtschaft tanzte und 2003 die grosse Sozialabbaukeule der AGENDA 2010 niedersausen liess. 2004 spaltete sich der linke, gewerkschaftsnahe Flügel ab und gründete die WASG5. 2005 war die rot-grüne Regierung am Ende. In der Folge liessen die Wähler:innen die Partei immer mehr im Stich, 2017 erhielt sie bei den Bundeswahlen gerade noch 20% der Stimmen, 2019 bei der Europawahl noch 16%! Die Mitgliedschaft war um mehr als die Hälfte geschrumpft auf noch rund 400‘000. Von ihrem Verschwinden bedroht rappelte sich die SPD 2020/21 auf. Sie übte erstmals klar Selbstkritik bezüglich der AGENDA 2010 und formulierte ein relativ linkes Wahlprogramm, welches die soziale Frage wieder ins Zentrum stellte (Mindestlohn 12 Euro, kein weiteres Absinken der Renten, u.a.). Auf dieser Linie legte die SPD im September 2021 wieder zu und erreichte 26% der Wähler:innenstimmen. Der Zuwachs erklärte sich insbesondere dadurch, dass die SPD wieder mehr mobilisieren konnte6. Da die CDU gleichzeitig einbrach, war die SPD nun stärkste Partei und konnte die Regierung bilden. Allerdings brauchte sie für eine Mehrheit nicht nur die Grünen, sondern auch die FDP, welche nun dafür sorgt, dass die Regierungspolitik nicht allzu links wird. Dennoch handelt es sich beim Regierungsprogramm nicht einfach um die Fortsetzung der neoliberalen Politik. Angesichts der Doppelkrise Klima/Corona verspracht die Regierung verstärkte soziale Absicherungen (Renten, Pflege, etc.) und – in einem gewissen Bruch mit der alten Austeritätspolitik – einen staatlich gesteuerten ökologischen Umbau.7 Wie versprochen, beschloss die Regierung zügig, den Mindestlohn auf 12 Euro pro Stunde hinaufzusetzen. Der Ukraine-Krieg und die Energiekrise hat diese Dynamik der SPD nun allerdings möglicherweise gebrochen.
Zusammenfassend
Zur Schwächung der Sozialdemokratie in Europa haben in den letzten Jahrzehnten sicher die Auflösung der traditionellen Sozialmilieus und die zunehmende Ausdifferenzierung auch in unteren sozialen Schichten beigetragen. Die Länderbeispiele zeigen jedoch, dass der Niedergang wesentlich durch die Übernahme der neoliberalen Wirtschafts- und Finanzpolitik zu Beginn der 2000er Jahre sowie nach der Finanzkrise von 2008 provoziert wurde. Umgekehrt ist es mehreren Sozialdemokratischen Parteien in den letzten Jahren mit einer erneuten Zuwendung zur sozialen Frage sowie einem gewissen «Wandel» weg von der mittelschichtigen Elitenpartei hin zu einer vielfältigeren Bewegung gelungen, einen Wiederaufschwung einzuleiten. Dies, obwohl die sozialstrukturellen Veränderungen weiterwirken.

3. Auf und ab der Parteien links der Sozialdemokratie

Links der Sozialdemokratie war die Hoffnung gross, dass der Niedergang der Sozialdemokratie Raum gebe zum Aufbau starker linkssozialistischer Parteien. Einige äusserten unverhüllt Schadenfreude und verkündeten auch den «Tod der Sozialdemokratie». Heute herrscht bei den Parteien links der SP allerdings vielerorts Konsternation, die meisten sind (wieder) weit unter der 10%-Marke.
Griechenland
In einem einzigen Fall konnte die Linke voll vom Niedergang der SP profitieren, in Griechenland. Dort hatte sich die PASOK mit ihrer Austeritätspolitik 2008 derart diskreditiert, dass ihre Wählerzahlen im freien Fall waren. Die Regierung der Konservativen Partei dis-kreditierte sich in der Folge ebenso. Die ehemals eurokommunistische Syriza wurde 2015 mit 36% stärkste Partei und führte die Regierung an. Von der EU-Troika zu Fall gebracht, musste Syriza zwar 2019 von der Regierung abtreten, sie blieb aber im linken Lager die stärkste Partei mit 31% der Wähler:innen, während die PASOK unter neuem Namen noch 8% erhielt. Wählermässig ging die Rechnung für Syriza also trotz Verlust der Regierungsmacht auf. Allerdings hat sich die Partei in diesem Prozess verändert und einige Linke befürchten, dass sich Syriza bald der europäischen Sozialdemokratie anschliessen könnte.
Spanien
Positiv verlief die Entwicklung auch mit dem Aufstieg von Podemos in Spanien, welche aus den sozialen Bewegungen («los Indignados») gegen die reaktionäre Austeritäts-Politik hervorgegangen war. Die aus der starken kommunistischen Partei PCE hervorgegangene Sammlungspartei Izquierda Unida war es nie gelungen, sich links von der PSOE stark aufzubauen. Anders Podemos, welche nach der Finanzkrise direkt von den Verlusten der PSOE profitierte und bei der ersten Wahlbeteiligung 2012 schon 12% erreichte. Podemos wollte weder normale Partei sein noch sich ins traditionelle Rechts-Links-Schema einordnen lassen. In bewusst populistischer Art sah sie die gesellschaftliche Polarisierung zwischen den Leuten (la gente) und der Elite (la casta). Ende 2014/anfangs 2015 überholte Podemos in Wahl-Umfragen sogar kurz die PSOE. Diese Situation verführte die Podemos-Spitze zu einer sektiererischen Politik gegenüber der PSOE. Diese sei als Teil der «Elite/Kaste» nicht viel besser als die bürgerlichen Parteien. Ziel von Podemos wurde der «Sorpasso», das Überholen der PSOE. Dies gelang in den Wahlen von 2015 jedoch nicht. Die PSOE machte 22% der Stimmen, Podemos 21% (bei den Sitzen war die Differenz grösser). Der Präsident von Podemos, Pablo Iglesias, setzte das Power Play fort und verlangte eine Regierungskoalition mit einem Co-Präsidium, die PSOE konzedierte aber nur untergeordnete Ministerien. Lachender Dritter war die reaktionäre PP, welche mit Manuel Rajoy die Regierung fortsetzen konnte. Nach den Wahlen vom November 2019, aus denen Podemos mit 13% geschwächt8 und die PSOE mit 28% gestärkt hervorgingen, kam es zur heutigen Koalitionsregierung. Diese ist gegenüber der düsteren Zeit der PP-Regierung zweifellos ein Fortschritt für alle progressiven Kräfte und dürfte noch einige Zeit weiterbestehen. Ob Podemos sich darin längerfristig profilieren und den Wähler:innenanteil von über 12% halten kann, ist jedoch offen. Für einen Teil der sozialen Bewegungen, welche Podemos repräsentierte, ist sie jetzt zu einer normalen linkssozialistischen Kraft geworden. Derzeit testet die populärste Exponentin von Podemos, die stellvertretende Ministerpräsidentin Yolanda Diaz, eine neue Sammlungsbewegung über Podemos hinaus.
Portugal
Einige befürchten, es könnte Podemos in Zukunft ergehen wie kürzlich dem Bloque de Izquierda und der PCP in Portugal. Zusammen hatten diese beiden Parteien (im Bündnis mit den Grünen) in den portugiesischen Wahlen von 2015 über 12% der Stimmen gewonnen. Mit ihrer Vereinbarung mit der Sozialistischen Partei drückten sie die Regierung nach links und verschafften ihr die nötige Mehrheit im Parlament. Bei den Gemeindewahlen 2020 verloren sie jedoch empfindlich und wagten deshalb im Herbst 2021 den Ausstieg aus der Unterstützung der Regierung der PS. Die Rechnung ging überhaupt nicht auf. Der Bloque verlor mehr als die Hälfte der Stimmen, die PCP die Hälfte. Es wird sich zeigen, ob sich die beiden in den kommenden Jahren als reine Oppositionsparteien, verbunden mit den sozialen Bewegungen, wieder stärken können.9
Frankreich
In Frankreich konnte eine neue Kraft links der PS von deren Niedergang profitieren: Die 2016 gegründete, von Jean-Luc Mélenchon angeführte neue Bewegung «La France insoumise» (LFI). Die früher sehr starke kommunistische Partei PCF hatte vom beginnenden Niedergang der PS ab Mitte der 1980er-Jahre nie profitieren können, im Gegenteil verlor die PCF bis zur Bedeutungslosigkeit. Auch die trotzkistischen Parteien konnten nicht profitieren. Mélenchon dagegen gelang es, viele heimatlos gewordene Sozialist:innen und gleichzeitig Kräfte aus den sozialen Bewegungen («Nuits debout» u.a.) zu sammeln. Auf Anhieb erreichten die «Insoumises» in den nationalen Parlamentswahlen im Jahre 2017 11%, in den Präsidentschaftswahlen fast 20% – weit mehr als die Parti Socialiste (7% und 6%). Grund genug für Mélenchon, die PS definitiv für «tot» zu erklären. La France insoumise konnte ihren Erfolg aber danach nicht halten. Autoritäre Führung durch den Vorsitzenden Mélenchon, interner Streit um die Linie gegenüber der EU, gegenüber der Parti Socialiste, u.a. führten zu vielen Abgängen von Partei-Exponent:innen.10 Im Hinblick auf die Präsidentschaftswahl von 2022 hat sich die Partei aber wieder zusammengerauft und mit ihrem Kandidaten Mélenchon eine äusserst starke Kampagne hingelegt. Fast 22 Prozent im ersten Wahlgang ums Präsidentenamt war ein sehr gutes Resultat, die PS und die Grünen waren weit abgeschlagen. Auf diesem Hintergrund konnte die France Insoumise für die Parlamentswahlen das Wahlbündnis NUPES schaffen, das eine sehr gute Dynamik entwickelte. Einige Prognosen sahen die NUPES schon als stärksten Block im Parlament. Dies hat sich schliesslich im Juni 2022 nicht realisiert. Aber fast 32% Wählerstimmen für NUPES war gegenüber der Wahl 2017 mit gerade mal 12% ein grosser Erfolg für die Linke, ein Erfolg der wesentlich der «La France insoumise» LFI zu verdanken ist.11
Deutschland
Grosse Hoffnungen wurden ehemals in Die Linke in Deutschland gesetzt. Sie entstand aus zwei Komponenten: In Westdeutschland aus der WASG, der Abspaltung aus der SPD aufgrund der antisozialen Politik von Schröder; in Ostdeutschland aus der PDS (mehrheitlich Nachfolge der SED). Ihr Programm war klassisch links-sozialistisch und konnte damit neben der traditionellen Wählerschaft im Osten sowohl enttäuschte ehemalige SP-Mitglieder/Wähler:innen anziehen wie auch Junge aus den sozialen Bewegungen. 2009 erzielte Die Linke bei den Bundeswahlen 12% der Wählerstimmen. In einzelnen Bundesländern im Osten ging der Wähler:innenanteil in den folgenden Jahren bis zu 28% (Thüringen), was in Einzelfällen zur Beteiligung an Regierung-koalitionen führte. Danach setzte jedoch der langsame Niedergang ein, an dessen aktuellen Ende Die Linke bei den Bundestagswahlen 2021 noch 4,9% der Stimmen erreichte und um ein Haar aus dem Deutschen Bundestag flog. Der Rückgang der Partei erfolgte in allen Komponenten: Gewerkschaftlich orientierte Ex-SPDler:nnen wählten vermehrt wieder SPD12. Im Osten hatte die Partei stark von der alten Generation profitiert, welche am Aussterben ist; zudem gingen hier auch Oppositionsstimmen in Richtung AfD verloren. In den sozialen Bewegungen verlor Die Linke durch ihre chronische Zerstrittenheit in vielen zentralen Programmfragen (Migration, NATO, ….) und Konflikte um die «Parteikultur» (u.a. Sexismusvorwürfe). Ein engeres Verhältnis zur massenhaften Klimabewegung ist bisher nicht gelungen. Ein Ende des Niedergangs ist auch nach dem jüngsten Parteitag vom Juni 2022 und Wahl eines neuen Kompromiss-Co-Präsidiums nicht absehbar.
Italien
Sehr bedenklich ist der Zustand der linkssozialistischen Kräfte in Italien. Die rasche Auflösung der PCI und die Bildung der PDS zusammen mit Resten der PSI und später auch der DC hat links ein breites Feld frei gelassen. Man hätte denken können, dass hier eine starke linke Kraft entstehen kann. Dies war jedoch nicht der Fall. Zwar startete die Rifondazione Communista (PRC) anfänglich nicht schlecht und erreichte 1996 8% der Stimmen. Es gelang ihr, auch viele Junge aus der Antiglobalisierungsbewegung zu gewinnen. Die PRC war damit anfangs sehr mobilisierungsstark. Bereits 1997 spaltete sich die PCR aber über die Frage, ob die Mitte-Links-Regierung unter Romano Prodi weiter toleriert werden soll. 2001 machte die PRC noch 5%, 2008 noch 3%. Die 2000er-Jahre sind geprägt von einer Kaskade von Neugründungen und Spaltungen links der PD. Vor den Wahlen wurden immer wieder neue Koalitionen für Wahllisten geschustert, die elektoral z.T. einen gewissen Erfolg hatten. Die Gruppierungen zerfielen jedoch meist kurz danach in verschiedene Einzelteile (oft angeführt von einem einzelnen Leader). Immer wieder war die Frage, ob/wie man mit der PD zusammenarbeiten könne, eine Streitfrage. Immer wieder fanden auch Einzelne zurück in den Schoss der PD. Heute macht die «Sinistra Italiana» etwa 3% der Stimmen, weitere zersplitterte Kräfte links der PD vielleicht noch 2%.13 Viele der potentiellen Anhänger:innen einer konsequenten Linken bleiben frustriert den Urnen fern.14 Gleichzeitig gibt es in Italien immer wieder starke ausserparlamentarische Mobilisierungen: Von der Bewegung der «Sardinen» 2019/20 gegen die rechtsextreme Politik, zum Generalstreik der Gewerkschaften Ende 2021 und zu den aktuellen Student:innen-Mobilisierungen. Diese finden jedoch in kaum einer Partei ihren Ausdruck.

4. Zusammenfassung und Ausblick

Die Sozialdemokratie ist nicht tot, sondern zurückgestutzt, insbesondere durch ihre neo-liberale Politik. Ihr Potential ist aber nach wie vor gross15 , wenn sie die Interessen der unteren Schichten und der Diskriminierten vertritt16. Der ökosoziale Umbau, die Mammutaufgabe unserer Zeit, ist dabei eine Chance – aber auch eine riesige Herausforderung. Die Linke fordert hier „Klimagerechtigkeit“ ein. Der Anspruch an eine ökologische und soziale Transformation (im globalen Massstab notabene) ist dabei riesig. Dies zeigt sich gerade aktuell mit der Energiekrise und den steigenden Preisen.
Für Mehrheiten braucht die Sozialdemokratie eine gute Bündnispolitik mit den Parteien links von ihr, mit den Grünen und anderen fortschrittlichen Kräften. Noch ist die Gefahr allerdings nicht gebannt, dass in Europa Sozialdemokratien am Ende des Corona-Ausnahmezustands wieder in eine neoliberale Wirtschaftspolitik und in den Austerität-Modus zurückfallen. Es ist noch nicht lange her, dass mehrere SPen beim Block der «Geizigen» mitmachten, welche die gemeinsame Aufnahme von Krediten durch die EU verhindern wollten. Die bevorstehende Auseinandersetzung über die Fiskalregeln in der EU wird deshalb zur entscheidenden Weichenstellung nicht nur für die EU, sondern auch für die Sozialdemokratie.
Auch die Schwäche der Parteien links der SP bedeutet nicht ihren Tod. In Griechenland, Spanien und Frankreich zeigen sie eine starke Vitalität. Aber auch mit einem Wähler:innenanteil von 5 bis 10 Prozent können linkssozialistische Parteien eine wichtige Rolle spielen17: indem sie von links her Druck auf die SP ausüben; indem sie linke Regierungen anstelle von reaktionären ermöglichen ; indem sie den sozialen Bewegungen in den politischen Institutionen einen Ausdruck geben können. Sehr oft verstecken sich zudem hinter einem klein erscheinenden einstelligen Wähler:innen-Anteil auf nationaler Ebene weit bessere Kräfteverhältnisse in einzelnen Landesteilen und grösseren Städten. Diese sind oft ein wichtiges Laboratorium für die Linke insgesamt. Offensichtlich ist jedoch, dass ein Projekt links der Sozialdemokratie seine Kraft nicht vor allem aus dem «Verrat» der Sozialdemokratie und der Abgrenzung von ihr beziehen kann. Vielmehr braucht es eine positive Perspektive einer anderen Gesellschaft, eines «System changes», wie es die radikaleren Klimabewegten formulieren.
Zur Person: Andreas Rieger ist Denknetz-Mitglied, ehemaliger Unia Co-Präsident und in der europäischen Gewerkschaftsbewegung aktiv.
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Exkurs I: Der Schweizer Ausnahmefall

In der Schweiz war die Sozialdemokratische Partei elektoral nie besonders stark (nach dem 2. Weltkrieg nie mehr als 27%), seit den 1980er-Jahren schwankt sie um die 20 Prozent herum. Dank der in der Schweiz möglichen Kombination von Oppositionspolitik und Regierungs-beteiligung und dank den Instrumenten von Referendum und Initiative war und ist der politische Einfluss der SPS aber grösser, als der nationale Wähler:innenanteil vermuten liesse.
Warum erlebte die SPS nicht einen Niedergang wie andere SPen in Europa? Im Unterschied zu ihnen kannte die Mehrheit der SPS keine blair-schrödersche neoliberale Abwendung von den unteren Schichten und den Gewerkschaften. Dies, obwohl diese Option anfangs der 2000er-Jahren mit dem «Gurten-Manifest» und ähnlichen Vorschlägen durchaus auch auf dem Tisch lag. Und auf eidgenössischer Ebene hat die SPS Austeritätspolitik und Sozialabbau nicht mitgetragen.
Die SPS verlor zwar auch Wähler in den unteren Schichten (insbes. an die Wahlabstinenz), konnte dies jedoch weitgehend bei Angestellten und bei Frauen kompensieren. Starke JUSO-Generationen verschafften der Partei zudem in den letzten beiden Jahrzehnten eine überdurchschnittliche Mobilisierungsfähigkeit und drückten sie eher nach links. Deshalb stimmt es wohl, dass die SPS im Verbund der Europäischen Sozialdemokratie PES das linkste Mitglied ist. Wenn der elektorale Anteil der SPS derzeit leicht zum Sinken neigt, ist dies nicht so schlimm, solange es durch ein noch grösseres Wachstum der (im europäischen Vergleich ebenfalls ziemlich linken) GPS kompensiert wird. Allerdings schmälert die GLP in einigen Kantonen dieses links-grüne Wachstum.
Auch in der Schweiz haben Kräfte links der SPS in den letzten Jahrzehnten einen gewissen Erfolg gehabt, insbesondere auf städtischer und kantonaler Ebene: Linke Kräfte, welche aus der nach-68er-Bewegung heraus entstanden sind (AL Zürich, Basta BS, Solidarité Romandie, …) und links-grüne Gruppierungen (SGA Zug, GrüBü BE, …). Sie haben den Raum ausgefüllt, wenn die SP immer moderater und staatstragender wurde. Sie haben die SP oft wieder nach links gezogen. Und sie haben den sozialen Bewegungen parlamentarischen Ausdruck verschafft. Unproduktiv wird ihre Wirkung immer dann, wenn einzelne Gruppierungen vor allem aus der Abgrenzung gegenüber ihren Konkurrenten im linken Lager leben (MPS im Tessin; Fraktionskämpfe in Genf, …). Zu einer nationalen Kraft wurden diese Kräfte in der Schweiz aber nie, sie gingen immer wieder (wählermässig) recht knapp an der Bildung einer Fraktion im Nationalrat vorbei und fielen dann wieder in ihre regionale Existenz zurück. Hier, insbesondere in einigen grossen Städten (Genf, Zürich, Bern, u.a.), spielen sie aber eine nicht zu unterschätzende Rolle als progressive Reformkraft.

Exkurs II: Gewerkschaften und linke Parteien

Die Gewerkschaften waren in Europa traditionell mehrheitlich sehr symbiotisch mit den Sozialdemokratischen Parteien verbunden. Parallel dazu war Gleiches in einigen Ländern mit den kommunistischen Parteien der Fall. In einigen Ländern gar mit der christlich-demokratischen Partei. In allen Fällen wurden die Gewerkschaften als Transmissionsriemen der Partei benutzt, umgekehrt garantierte die Partei den Gewerkschaften Zugang zu staatlichen Instanzen. Mit dem Niedergang der sozialkulturellen Arbeitermilieus und mit den elektoralen Verlusten der traditionellen Parteien haben sich die meisten Gewerkschaften jedoch von «ihren» Parteien emanzipiert. Allerdings brauchte dies oft einige Zeit.
Die früher sozialdemokratisch orientierten Gewerkschaften konnten die blairsche und schrödersche Politik nicht mittragen, ohne die Interessen der Basis zu verraten. Jedoch nahmen die Gewerkschaften in dieser oftmals länger dauernden Transitionsphase auch Schaden. Die TUC blieb Tony Blair längere Zeit treu, bis sie merkten, dass Teile der eigenen Basis Rechtspopulisten zu folgen begannen. Der DGB mobilisierte zuerst kaum gegen Rentenalter 67 und gegen die AGENDA 2010 (diese treffe die eigene Basis nicht, meinte anfangs die IG Metall). Unterdessen arbeiten diese Gewerkschaften nicht mehr allein mit der SP zusammen, sondern auch mit den Parteien links von ihr, sowie auch mit den Grünen. Dies gilt auch für den Europäischen Gewerkschaftsbund (EGB), der zudem auch mit einzelnen christlich-sozialen Kräften zusammenarbeitet. Einzig die TUC ist weiterhin unheilvoll gefangen in der symbiotischen Beziehung zur Labour Party und deren verschiedenen Fraktionen. Emanzipiert haben sich auch die Christlichen Gewerkschaften. Mit Erfolg in Belgien (wo die sich nach wie vor christlich verstehende CSC gleich stark ist wie die linke FGTB), geschwächt die CISL in Italien.
Auch die KP-nahen Gewerkschaften mussten gezwungenermassen einen autonomen Weg finden. Gut gelungen ist dies der CGIL, welche auch auf dem politischen Parkett als eigenständige soziale Kraft unabhängig von allen Parteien auftritt (letztmals mit dem Generalstreik Ende 2021). Stark sind auch die Commissiones Obreras in Spanien geblieben. Tiefer in der KP-Tradition sind Teile der französischen CGT und die portugiesische CGTP geblieben, die zwar beide mobilisierungsstark sind, aber Mühe beim Aufbau in neuen Schichten und Milieus haben.

Fussnoten

1. In einigen Länder regierten zudem – was oft vergessen wird – bis in die 1970er Jahre Faschisten und Militärs (Spanien, Portugal, Griechenland).
2. Siehe unseren eigenen Ansatz, welcher den Mittelstandsmythos kritisiert und eine bedeutende Klasse von Lohnabhängigen im eigentlichen Sinne des Wortes analysiert. Verkannte Arbeit, Dienstleistungsangestellte in der Schweiz. A. Rieger, P. Pfister, V. Alleva, Rotpunktverlag 2012
3. Siehe Kristen Ghodsee, Taking Stock of Shock, 2021
4. Der Zusatz «della Sinistra» wurde bei dieser – nach dem Vorbild der amerikanischen Demokraten 2007 neu gebildeten – Partei aus dem Namen entfernt.
5. WASG, Wahlalternative Arbeit und soziale Gerechtigkeit.
6. Entgegen anderslautenden Prognosen wurde die SPD wieder überdurchschnittlich in unteren Schichten und von Gewerkschafter:innen gewählt. Zudem wechselte eine halbe Million WählerInnen der Linken zur SPD. Die veränderte Positionierung der SPD zu negieren geht an der Empirie vorbei.
7. Nach Jahren der Krise haben sich auch die SP in den nordischen Ländern wieder etwas erholt. Sie können in allen vier skandinavischen Ländern wieder die Regierung anführen. Dies unter anderem dank der Krise der Konservativen Parteien, welche noch mehr geschwächt sind als die SP. Der Wähleranteil der SP liegt mehrheitlich unter 30%, weshalb sie auf breite und damit wacklige Koalitionen angewiesen sind. In Schweden, Finnland und Norwegen führen die SPen derzeit eine klassisch soziale, in Dänemark dagegen eine sozial-nationalistische Politik. 8 Hinzu kommen etwa 3% der Abspaltung «Mas pais». Diese war aus dem Streit über die Fortsetzung der populistischen Linie hervorgegangen, als Podemos sich als linke Kraft zu profilieren begann.
9. Siehe hier die gute Analyse von Mario Candeias
10. Befremdlich auch im Europaparlament, wo die Insoumises aus der linken Fraktion austraten, weil diese nicht bereit war, Syriza nach ihrer «Kapitulation vor der EU» auszuschliessen.
11. Sitzverteilung der NUPES im Parlament: LFI: 84; PS 28; Ecologistes 23; PCF: 14
12. Rund 600‘000 WählerInnen der PDS von 2017 flossen 2021 an die SPD ab.
13. Sehr gute Darstellung der verworrenen Geschichte: Jens Renner, Die Linke in Italien, 2021
14. Sehr gute Darstellung der verworrenen Geschichte: Jens Renner, Die Linke in Italien, 2021
15. 40% umfasst das Wahlpotential der Sozialdemokratie weiterhin gemäss Forschungen von Silja Häusermann u.a. (NZZ 10.12.2021)
16. Siehe auch: Samira Marti / Hans Schäppi, Krise und Erneuerung der europäischen Sozialdemokratie. Jahrbuch Denknetz 2020
17. Derzeit nicht nur in Spanien, sondern auch in den nordischen Ländern.