Aufstand der freundlichen Verschwörungs-
erzähler?

Viele fragten sich nach der Corona-Demonstration in Liestal, wofür eigentlich die aus der ganzen Schweiz kommenden Teilnehmenden einstehen, welches ihr Hintergrund ist und wer hinter der Organisation dieser Kundgebungen steht. Was Liestal für die Schweiz war, war die Corona-Demonstration in Kassel mit über 20‘000 Teilnehmenden für Deutschland. Michael Lacher fand in Kassel rechte und linke Verschwörungstheorien, verständliche Existenzängste, viel Skurriles aber auch Bedrohliches. Vieles, was er in Kassel beobachtet hat, dürfte auch auf die entsprechende schweizerische Szene zutreffen.
Die Demonstration von Corona-Skeptiker*innen in Liestal mit 7‘000 Teilnehmenden hat in der Schweiz viele aufgeschreckt und für Diskussionen gesorgt. Nicht nur wegen der „behutsamen“ Behandlung der Demonstrierenden durch die Polizei, die weder Distanzverbot noch Maskenpflicht durchsetzte, sondern den Organisierenden sogar per Lautsprecher noch einen guten Erfolg der Kundgebung wünschte. Inzwischen scheinen die Behörden gelernt zu haben. Für eine ähnliche Demonstration, die Mitte März in Altdorf geplant war, wurde keine Bewilligung mehr erteilt. Offenbar war es etwas naiv zu glauben, dass an einer Kundgebung von Maskengegnern Schutzmasken getragen würden…
Viele fragten sich nach Liestal, wofür eigentlich die aus der ganzen Schweiz kommenden Teilnehmenden einstehen, welches ihr Hintergrund ist und wer hinter der Organisation dieser Kundgebungen steht. Was Liestal für die Schweiz war, war die Corona-Demonstration in Kassel mit über 20‘000 Teilnehmenden für Deutschland. Vieles, was Michael Lacher in seinem folgenden Beitrag in Kassel beobachtet hat, dürfte auch auf die entsprechende schweizerische Szene zutreffen. So etwa die Vielschichtigkeit der Teilnehmenden, zu denen auch viele Personen gehören, die aus echter Sorge um ihre Existenz verzweifelt nach Alternativen zum gegenwärtigen Corona-Regime des Staates suchen. Die unten von Lacher zitierte Basler Untersuchung zeigt für die Schweiz, dass eine eindeutige politische Orientierung bei den Corona-Skeptiker*innen nicht auszumachen ist und es nur einen leichten Überhang an rechtsnationaler Gesinnung gibt. Hingegen dürfte auch für die Schweizer Szene gelten, dass Gedankengut mit verschwörungstheoretischem Hintergrund weit verbreitet ist. Auch sind die Kreise, die hinter der Organisation der Liestaler Demo standen, ziemlich eindeutig auszumachen, auch wenn sie sich, wie die Gruppierung „Stiller Protest“ sehr publikumsscheu geben. So weiss man z.B. über „Stiller Protest“, dass dort Markus Holzer, ehemaliges Thurgauer SVP-Mitglied, Aktivist für die Masseneinwanderungs-Initiative und Corona-Massnahmengegner der ersten Stunde eine wichtige Rolle spielt. Oder etwa die Gruppierung „Mass-voll“ deren Gründer und FDP-Mitglied Rimoldi auch im Vorstand der Aktion für eine unabhängige Schweiz Auns sitzt. Zum Team gehört auch der Schwyzer SVP-Kantonsrat und Maskengegner Stocker oder der Jung-SVPler Chanson. Zu den organisierenden Verbänden zählt zudem die „Freiheitliche Bewegung Schweiz FBS“ des ehemaligen Luzerner SVP-Parteisekretärs Koller, die auch enge Verbindungen zur Impfgegnerschaft hat und dort z.B. mit der Luzerner SVP-Nationalrätin Yvette Estermann zusammenarbeitet. Eine ähnliche Stossrichtung mit esotherischem Touch vertritt „Widerstand 2020“, wo z.B. der Arzt und Impfgegner Heisler aktiv ist. Bekannt wurde er durch die Falschmeldung, dass ein Altersheimbewohner in Luzern an der Covid-19-Impfung gestorben sei, worauf ihm die Praxisbewilligung entzogen wurde.
Schweiz, Hans Baumann

Viele kamen nach Kassel

Eine Corona-Demo am Samstag in Kassel – viele, sehr viele kamen: aus Aachen, aus Berchtesgaden, aus Erfurt und aus Unna. Und weniger, so der Eindruck, aus dem schwäbischen „Querdenker“-Stammland. Sie waren morgens um 4 Uhr aufgebrochen, um zu behaupten, dass wir „Deutschen in einer Diktatur“ leben, dass die „SED-Bonzen wieder an der Macht“, dass es „schlimmer als in der DDR“ sei, dass die Pandemiebekämpfung („Pandemie! Welche Pandemie?“) „schlimmer als der Dritte Weltkrieg“ (RA Füllmer) und überhaupt alles eine Lüge der „gleichgeschalteten Presse“ sei und der Drosten sowieso seine Doktorarbeit gekauft oder mindestens zu Unrecht bekommen habe. Aufgerufen hatten die „Freien Bürger Kassel“ für „Demokratie und Freiheit“ und dabei ein „Frühlingserwachen“ versprochen, sowie etwas großspurig „Die Welt steht auf“ gefordert. Die „Freien Bürger“ sind Jan, Ilhan und Sunny, die Eventmanagerin, in deren Umfeld auch die „Jana aus Kassel“ stammt, die im Winter mit einem selten dämlichen Auftritt in Hannover das Schicksal von Sophie Scholl mit ihrer aktuellen Lebenslage in Bezug gebracht hatte. Damit ist auch ungefähr das intellektuelle Niveau der Veranstalter*innen umrissen.
So weit so schlimm, alles bekannt, eigentlich langweilig und ziemlich stumpf. Wären da nicht die vielen Menschen, die einen Tag lang die Innenstadt Kassels aus allen Himmelsrichtungen geflutet hätten. Menschen, die wie die Ärzte und Ärztinnen und das demonstrierende Pflegepersonal aus bürgerlichen Berufen kamen, oder die freundlich lachende Mitstreiterin aus Erfurt, die Betriebsschlosserin bei VW-Baunatal gelernt hatte und mit dieser Demo nun mal einen freudigen Besuch in ihrer alten Heimat Kassel machte. Oder, wie die meisten Teilnehmenden, eher älteren gediegenen Herrschaften in beiger Funktionskleidung mehr oder weniger höflich ihr Anliegen vorbrachten. Menschen ohne rechtsradikalen Habitus und, in ihrem Selbstverständnis, in friedlicher Absicht. Und sie riefen immer wieder nach „Freiheit und Demokratie“, „Widerstand“ und gegen eine „Corona-Diktatur“, sie riefen „keine Gewalt“ und sie ließen Luftballons und Seifenblasen fliegen, holten das Picknick mit Bauernpresssack und fränkischer Bockbierleberwurst aus den prall gefüllten Rucksäcken. Schwenkten die Friedenstauben neben den Stars and Stripes der Trump-Fahnen. Sicher, es gab ein paar kleinere Scharmützel mit der Polizei am Rande der zahlreichen Demozüge. Die Innenstadt war sicherlich zugestellt, aber insgesamt freundlich, sonnig und entspannt. Ohne Masken, ohne Abstandsregeln, auf legere Art respektlos denen „da oben“, aber auch den coronagefährdeten Mitmenschen gegenüber, individualistisch und auf quere Art widerständig.

Gegen die Weltdiktatur

Aber: Eine trügerische Idylle mit ungeheurer Sprengkraft. Ja, vor allem Frauen waren zu sehen, sie vermitteln eine ehrliche Sorge um das Kindeswohl im pandemischen Lockdown. Und ja, sie leugnen Covid-19, das Infektionsgeschehen, sie leugnen die Covid-Toten und die Übersterblichkeit. Sie lächeln die Coronagefahren weg und glauben an die „Lügen der Herrschenden“. Sie erkennen manches Versagen politischer Corona-Maßnahmen und die materielle Gier einzelner Politiker. Und: Sie haben jegliches Vertrauen in die Politik verloren, haben sich vom offiziellen parlamentarischen Politikbetrieb abgewandt und bewegen sich in ihrer eigenen Informationsblase.
Sie, die Teilnehmenden der Demonstration und Kundgebung, haben ihre eigene politische Logik entwickelt, die bei einem Teil in die Vorstellung einer angestrebten Weltdiktatur des Tech- und Pharma-Kapitals (Microsoft, Google, Apple etc.) mündet, das in seiner Profit- und Herrschaftssucht zunächst ihren, „des Volkes“, Widerstand brechen möchte und schließlich, insbesondere Bill Gates, zu einem Herrscher der Welt verhelfen wird. So lautet in etwa die Variante der politischen Erzählung der „Freien Linken“ (eine Abspaltung der Linkspartei) zur Intention herrschender Coronapolitik. Zu diesem politischen Narrativ gibt es noch einen rechten eher skurrilen Ansatz, der etwas schlichter die Verantwortung für das Coronadesaster einer verlängerten Verschwörung ehemaliger Stasi- und SED-Bonzen zuschieben, die letztlich wieder eine Diktatur á la DDR 2.0 oder China 2.0 anstreben. Diese ein wenig karnevalesk klingende Erzählung von einzelnen „Querdenkenden“ dürfte sich dann eher dem PEGIDA-Spektrum nähern.
Eine zweite Verschwörungsvariante setzt einfach auf Leugnung, die gewissermaßen eine Art ideologisches Grundrauschen der gesamten Bewegung darstellt. „Kein gefährliches Virus“, „nicht mehr als eine kleine Grippe“, „geringes Infektionsrisiko“, „die Zahlen sind gelogen“, „keine Übersterblichkeit durch Covid-19“, der Impfstoff ist so profitabel wie unwirksam. Sämtliche Zahlen und Bilder aus Bergamo im Frühjahr 2020, die aktuellen Infektions- und Todeszahlen aus Brasilien sind Fakenews, genauso wie das RKI als Agentur eines Coronakomplotts eingeschätzt wird. Sie sehen keine oder im Zweifel tödliche Wirkung des Impfens, nicht zuletzt deshalb, weil der mRNA-Impfstoff von Biontech/Pfizer auf einem höchst gefährlichen, weil das menschliche Erbgut angreifenden Entwicklungsverfahren beruht und in der präsentierten Geschwindigkeit ohnehin hätte nicht entwickelt werden können. Alles bekannte Erzählungen, die zuhauf im Netz umherschwirren und von einigen prominenten Ideologen wie Wodarg und Bhakdi immer wieder befeuert werden.

Krise treibt Menschen um

Die dritte Variante ist eine moralisch besorgte bis wütende Reaktion auf die Lockdownpolitik. Sie wird getragen von jungen Müttern und älteren Menschen, die sich um ihre Enkel und Kinder sorgen. Sie beklagen zurecht die Gefährdung des Kindeswohl durch die Lockdownpolitik und sie beklagen ebenso die psychischen Folgeschäden insbesondere von älteren isolierten Menschen und Heimbewohner*innen wie überhaupt die „Kollateralschäden“ des Lockdown. Diese Erklärung trägt aber auch die Verzweiflung und Wut von kleinen Einzelhändler*innen, Friseur*innen, Gastronomen*innen, Soloselbstständigen, Künstler*innen und Beschäftigten der Event- und Veranstaltungsbranchen. Allein die Veranstaltungsbranche als sechstgrößte in Deutschland setzt mit 1 Mio. Beschäftigten 1,8 Mrd. Euro pro Jahr um. Und da ist der Profifußball als milliardenschwere Sparte noch nicht mitgerechnet. Das zeigt ungefähr die materielle Reichweite möglicher Verzweiflung und sozialer Abstiegsängste an.
Hier wächst ein soziales Verzweiflungs- und Wutpotenzial heran, das sich trotz aller wohlmeinenden wirtschaftspolitischen Coronamaßnahmen in Zukunft kaum beschwichtigen lassen wird. Aus diesem Potenzial speist sich die Angst des sozialen Untergangs, der im Regelfalle verdeckt bleibt und nur in sehr geringem Maße auf der Straße Platz greift. Es ist die Sprengkraft, die sich in Wahlen zeigen könnte. Etwa im Absturz konservativer wirtschaftsnaher Parteien und auch in einer sinkenden Wahlbeteiligung zum Ausdruck kommen könnte. Das hat sich möglicherweise jetzt schon in der geringeren Wahlbeteiligung an den Landtagswahlen in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz von sechs bis sieben Prozent (2016/2021) gezeigt. Einen Hinweis hierzu gibt auch die Untersuchung von O. Nachtwey u.a. zu den Querdenker*innen vom Dezember 2020, in der ein völliges Abrücken bei Wahlen von den in den Parlamenten vertretenen Parteien (mit Ausnahme der AfD) festgestellt wurde (S. 10.).

Viel politischer Sprengstoff

Aus diesem zum Teil kruden Weltbild und Erklärungsmustern setzt sich eine Bewegung zusammen, die in der Lage ist, deutlich mehr als 20.000 Menschen, wie in Kassel, aus allen Teilen des Landes auf die Straße zu bringen. Die Dunkelziffer des Denkens und Erklärens in dieser Weise dürfte um ein vielfaches höher sein. Das kann man belächeln oder einfach als Spinnerei abtun, aber diese Erzählungen und vor allem die dahintersteckenden Gemütslagen werden mittlerweile nicht nur von Coronaleugner*innen und Coronakritiker*innen als ihr Denk- und Erklärungsmuster geteilt. Es birgt Sprengstoff, weil es aus „der Mitte der Gesellschaft“ auf die Straße geschafft hat. Teile der Mittelschichten beginnen sich vom Politikbetrieb und dem Parlamentarismus abzuwenden. Die Lockdownpolitik generell sowie die häufig undurchsichtigen, sprunghaften, disparaten und nicht selten widersprüchlichen Maßnahmen der Bundes- und Landesregierungen untergraben das Vertrauen in die Regierungsfähigkeit der politischen Hauptakteure. Dabei wirken das immer häufiger zu Tage tretende Korruptionsverhalten von Politikern („Maskenskandal“), das schier unerschöpfliche Verschwendungsverhalten von Ministerien („überteuerter Maskenkauf in der Schweiz“; Milliarden Zuwendung an die Apotheken zum FFP2-Masken-Verkauf) und undurchsichtige millionenschwere Villenkäufe von Politikern während der Pandemie (BM Spahn in Berlin-Dahlem) als Brandbeschleuniger. Große Teile der Menschen haben den Eindruck, überhaupt nicht mehr oder zumindest nicht mehr effektiv regiert zu werden. Dabei war das einmal ein Markenzeichen Merkel’scher Regierungsfähigkeit sicherlich nicht visionär und gestaltend, aber im besten Sinne problemlösend (für wen auch immer) zu regieren.
Diese Einschätzung wird gestützt von Ergebnissen der schon erwähnten Baseler Studie, in der die Befragten zu mehr als 90% die Regierungspolitik als „übertrieben“, als „unnötig Angst schürend“ und „willkürlich“ bezeichnen (Nachtwey u.a. S. 14). Mit der weiteren Chaotisierung und geringer Plausibilität aktueller regierungsamtlicher Politik vor allem bei der Impfstoff- und Schnelltestbeschaffung dürfte sich die Distanz zum Regierungshandeln weiter erhöht und möglicherweise auch Bevölkerungsteile erfasst haben, die sich selbst gar nicht zu dem Querdenkermilieu zählen und schon gar keine Coronaleugner*innen sind, aber bei denen mittlerweile ein hoher Vertrauensverlust in die aktuelle Coronapolitik Einzug gehalten hat. Auch bei diesen, die nicht selten dem akademischen Mittelschichtmilieu wie die Querdenkenden (Nachtwey u.a. S.7-9) zuzurechnen sind, wird es schwer werden, sie der parlamentarischen Politik wieder zuzuführen bzw. wieder Vertrauen in Regierungshandeln herbeizuführen.
Neben diesem erratischen und zum Teil korrupt erscheinenden Regierungshandeln zeigt sich der Vertrauensverlust vor allem auch in die staatlichen Institutionen, deren Verlässlichkeit in Deutschland lange Zeit unbestritten war. Diese kaum nachvollziehbare Bräsigkeit deutscher Bürokratie, vernachlässigter Digitalisierung, verspäteter Desorganisation in der Verteilung etwa von Schnelltests und Impfstoffen wirft nicht nur die Frage verlässlichen staatlichen Handelns auf, sondern verlängert sich in das grundlegende politisch-systemische Geschehen. Mit der Verabschiedung des Infektionsschutzgesetzes, der teilweisen Umgehung parlamentarischer Einflussnahme und Entscheidungshoheit bei staatlichen Eingriffen in die Grundrechte wird sich nur schwer eine nachhaltig wirkende Demokratiekrise abwenden lassen. Eine neue Bundesregierung wird sich nach den Wahlen im September 2021 vor allem der Frage stellen müssen, wie sie große Teile der Bevölkerung wieder für die Teilhabe an demokratischen Prozessen zurückgewinnen will.
Deutschland, Michael Lacher
Zu den Autoren: Hans Baumann ist Ökonom und Publizist. Michael Lacher ist Blogger und Publizist zu Kassel.