50 Jahre Frauenstimmrecht: Repräsentation ist nicht genug!
Wenn wir uns die Plakate anschauen, die vor 50 Jahren gegen die Einführung des Frauenstimmrechts warben, haben die meisten von uns wohl nur ein müdes Lächeln für die grotesken, konservativen Argumente von damals. Man könnte meinen, diese Zeiten seien endlich vorbei und dass wir in einem gleichgestellten Land lebten. Doch wie sieht es genau 50 Jahre nach der Einführung des Frauenstimmrechts aus, leben wir wirklich in einer gleichberechtigten Schweiz?
Die Berner Stadtparlamentswahlen letzten November und die daraus resultierenden rekordverdächtigen 68% Frauen im Parlament lassen hoffen, dass sich tatsächlich was tut in Sachen Gleichstellung. Ja, in den letzten 50 Jahren hat sich viel bewegt. Ob auf der Strasse für den Frauen*streik oder online mit der #metoo Bewegung – jüngste Beispiele zeigen, die Frauen lassen nicht locker. Aber in vielen Bereichen bewegt sich leider immer noch zu wenig.
Frauen verdienen in der Schweiz jährlich noch immer 108 Milliarden Franken weniger als Männer und leisten noch immer den Grossteil der unbezahlten und wenig wertgeschätzten Care-Arbeit. Dies schlägt sich auch in den Frauenrenten nieder, die heute etwa ein Drittel tiefer liegen als jene der Männer. Auch sexualisierte Gewalt ist in der Schweiz noch immer eine traurige Realität: Jede zehnte Frau, die in der Schweiz lebt, wurde schon mal Opfer einer Vergewaltigung.
Mit politischen Rechten und Repräsentation alleine lassen sich diese schwerwiegenden Probleme nicht lösen. Mehr Martullo Blochers im Parlament bringen feministische Anliegen genauso wenig weiter, wie ein SVP-Schreiner die Interessen der Arbeiter*innenschaft vorwärts bringt. Die Milliardärin hat mit der Verkäuferin wohl weniger gemeinsam, als mit dem Verwaltungsrat. Für wen wird sie wohl eher Politik machen?
Heute, 50 Jahre nach der Einführung des Frauenstimmrechts ist es wichtiger denn je, zu verhindern, dass feministische Forderungen auf reine Repräsentationsfragen beschränkt werden. Denn damit lassen wir die Rechtsbürgerlichen zu schnell vom Haken. Mehr Frauen im Parlament bedeuten noch lange keine feministische Politik. Wir dürfen uns nicht abspeisen lassen, indem einige wenige privilegierte Frauen in Machtstrukturen eingebunden werden. Denn das gehört zur zweiteiligen Strategie, die der Kapitalismus schon seit seiner Entstehung fährt: Nach politischen Kämpfen hat es der Kapitalismus immer wieder geschafft fortschrittliche Bewegungen umzuformen und zu integrieren. Dies ist die heimtückische Stärke eines Systems, das seine Herrschaftsstrukturen zumindest vordergründig nicht auf Geburtsrecht stützt. So wurden Forderungen der Umweltbewegungen übersetzt in neue Marktpotentiale für grüne technologische Innovationen. Auch feministische Forderungen wurden integriert, indem Frauen das Stimmrecht erhielten und die stärkere Beteiligung von Frauen auf dem Arbeitsmarkt für den Kapitalismus neue Möglichkeit eröffnete, um Löhne zu senken und zusätzliche Arbeitskräfte auszubeuten.
Als zweites wurden die privilegiertesten Mitglieder von unterdrückten Gruppe ins Machtgefüge aufgenommen, während jene, die von verschiedenen Dimensionen der Diskriminierung betroffen sind, unsichtbar zurück bleiben. Bei der Entstehung des Kapitalismus durften sich die Reichen zum exklusiven Club des Adels gesellen. Homosexuelle weisse Männer erhalten nach und nach ihre Rechte. Wohlhabende Frauen werden heute von der Doppelbelastung durch Care- und Lohnarbeit befreit, indem die Pflegearbeit auf schlecht bezahlte Migrantinnen abgeschoben wird. Analog dazu schaffen immer mehr Frauen den Sprung ins Parlament, die meisten von ihnen stammen ebenfalls aus privilegierten Lebensverhältnissen. Doch zurück bleibt die lesbische Frau*, die jeden queeren Kampf mitgeführt hat.
Die Macht für eine Gruppe zu sprechen, wird immer bei ihren privilegiertesten Mitgliedern liegen. Wenn wir nur für eine bessere Repräsentation von Frauen* kämpfen, können wir ihren vielfältigen Lebensrealitäten nicht gerecht werden. Dafür gibt es schlicht zu wenige Plätze in den Machtzentralen des Kapitalismus. Feminismus kämpft nicht nur für eine Neubesetzung der Machtspitze und mehr Frauen in Parlamenten oder Verwaltungsräten, sondern für eine gerechtere Verteilung der Macht über alle Teile der Gesellschaft.
Repräsentation alleine ändert nichts daran, dass es im Kapitalismus ein Unten und ein Oben gibt – linke Politik schon. Weil linke Politik darauf abzielt, dass Macht an die Menschen zurück verteilt wird. Weil sie den Menschen Sicherheit gibt, finanziell und sozial. Weil sie alle Menschen ermächtigt – und nicht nur die Wenigen, die in exklusiven Verwaltungszimmern und Parlaments-Sälen sitzen.
Repräsentation ist ein wichtiger Teil des feministischen Projekts – aber für echte Gleichstellung für alle Frauen brauchen wir mehr.
Der erste Schritt dazu ist anzuerkennen, dass wir den Kampf für Frauenrechte nicht trennscharf abgrenzen können von anderen emanzipatorischen Kämpfen. Weil Diskriminierungen nach Geschlecht eng verzahnt sind mit anderen Dimensionen der Diskriminierung, die in keinem Gesetz festgeschrieben sind. Es gibt nicht die eine sexistische Diskriminierung, die alle Frauen gleichermassen trifft. Sexistische Vorurteile äussern sich anders, je nach Hautfarbe oder Grösse des Portemonnaies der betroffenen Person.
Feministische Politik im 21. Jahrhundert muss deswegen zwangsläufig bedeuten, mit der gleichen Vehemenz gegen Rassismus, Klassismus und Queerfeindlichkeit zu kämpfen, wie es unsere Vorgänger*innen für die Einführung des Frauenstimmrechts getan haben.
Die feministischen Kämpfe des 21. Jahrhunderts drehen sich um Lohngleichheit und sexualisierte Gewalt und eine angemessene Vertretung von Frauen in Parlamenten, aber eben auch um Mindestlöhne, eine Stärkung der öffentlichen Pflege und ein Ende der unmenschlichen Politik gegen Geflüchtete.
Zur Person: Ronja Jansen ist Präsidentin der Juso Schweiz und Mitglied der Denknetz-Kerngruppe.