Editorial

Für den ökonomischen Mainstream ist der Markt das zentrale Referenzsystem. Der Markt sorgt für die bestmögliche Allokation der Ressourcen. Ausnahmen wie ›natürliche Monopole‹ oder ›externe Effekte‹ bestätigen die Regel. Die Ökonomie erscheint als selbsttätige Sphäre, die ihren eigenen Gesetzen gehorcht. Daraus leitet die liberale Wirtschaftslehre auch den Anspruch ab, mit ihren Erkenntnissen gegenüber anderen Gesellschaftswissenschaften und gegenüber der Politik eine Leitfunktion zu haben. Dabei gilt die Gleichsetzung ökonomisch = wissenschaftlich = ideologiefrei = effizient = marktwirtschaftlich. Nur derjenige handelt wirksam, der sich an den proklamierten ökonomischen Gesetzmässigkeiten orientiert.

Auf diese Dominanz der Mainstream-Ökonomie reagieren Ansätze, deren Optik als korrigierend bezeichnet werden kann. Der Ökonomie werden die Gesetze und Ansprüche anderer Systeme entgegengestellt. Ein Beispiel dafür ist das ›magische Dreieck‹ von Ökonomie, Gesellschaft und Ökologie: Marktökonomie soll nach Möglichkeit auch sozial und umweltverträglich sein. Dieser Ansatz greift zu kurz. Denn die Methoden der wirtschaftsliberal orientierten Ökonomie erzeugen Zerrbilder der Wirklichkeit und müssen ›von innen‹, also mit den Mitteln einer kritischen Ökonomie untersucht werden. Die Kritik ›von aussen‹ unterstellt, die Mainstream-Ökonomie komme zwar zu richtigen, aber ›einseitigen‹ Aussagen; folgerichtig prallt sie immer wieder an der real existierenden Dominanz der ›Zwänge der globalisierten Konkurrenz‹ ab.

Wirtschaftliche Verhältnisse lassen sich nicht von sozialen Verhältnissen trennen, vielmehr sind sie soziale Verhältnisse. Sie sind Alltagsstrukturen, Macht, Abhängigkeiten. Ökonomie als Fachdisziplin muss deshalb politische Ökonomie sein. Politische, soziale und ökonomische Verhältnisse sind untrennbar verwoben, sind Teil der gesamtgesellschaftlichen (Re-)Produktion. Das Herausbrechen von Teilsichten erzeugt nicht nur ›Einseitigkeiten‹, sondern Falschheiten.

Die vulgarisierte neoliberale Lehre bricht die Ökonomie aus ihrem Gesamtzusammenhang heraus und konzentriert ihre Analyse auf das Marktgeschehen. Die Entwicklungen und Verhältnisse in der Produktionssphäre werden hingegen wenig beachtet. Dies betrifft sowohl die stoffliche Seite (was wird produziert, mit welchen Folgen für Mensch und Umwelt) als auch die sozialen Verhältnisse: Lohnarbeit wird über den Arbeitsmarkt analysiert, die Wirkungen von Ausbeutung und Entfrem4 Denknetz • Jahrbuch 2007 dung werden aus den ökonomischen Betrachtungen ausgelagert. Gewerkschaften zum Beispiel gelten als Kartell, als Störfaktor für das Gleichgewichtsstreben des optimal funktionierenden Arbeitsmarkts. Ökologische Probleme werden begrifflich ausgelagert, in dem sie als ›externe Effekte‹ beschrieben werden. Extern sind sie tatsächlich, aber nur in der engen Optik der Gewinnorientierung.

Ebenso fallen alle nicht-marktwirtschaftlich orientierten Formen des Wirtschaftens aus dem Betrachtungsfeld der Marktökonomie heraus. Das betrifft sowohl die privat erbrachte Care-Economy (private Betreuungs- und Hausarbeit, freiwillige Arbeit, soziale Netze) als auch den Service public. Beide Sektoren sind zwar qualitativ und quantitativ von enormer Bedeutung, werden jedoch nicht in ihrer Eigenheit untersucht, sondern nur im Hinblick auf ihre Störfunktion oder ihre Ressourcen, die sie der ›eigentlichen Ökonomie‹ gratis zur Verfügung stellen.

Nicht zuletzt dient die (neo)liberale Ökonomie der Abwehr von Systemkritik. Andere Konzepte über vergesellschaftete Formen des Wirtschaftens werden als systemwidrig ausgegrenzt, weil es ja nur eine wissenschaftlich fundierte Ökonomie gibt, nämlich die marktbasierte Ökonomie. ›There is no alternative‹, besser gesagt: ›There must be no alternative‹. Das Denknetz will demgegenüber Diskursräume für eine kritische, ganzheitliche Sicht der Wirtschaft öffnen. Wir greifen dabei auf den Begriff der politischen Ökonomie zurück, der verwendet wurde, bevor zu Beginn des 20. Jahrhunderts die neoklassischen, gleichgewichtsorientierten Theorien die ökonomische Lehre zu dominieren begannen. Die Ansätze der frühen bürgerlichen Ökonomie, wie sie Adam Smith oder John Stuart Mill entwarfen, verstanden sich als politische Ökonomie. Auf der anderen Seite rief Karl Marx Grundlagenwerk zur Kritik der damaligen politischen Ökonomie auf.

Wir suchen die Auseinandersetzung unter verschiedenen ökonomischen Denkschulen. Dazu zählen wir Ansätze von Keynes, Marx und der Care-Economy, und selbstverständlich auch der Mainstream-Ökonomie, zumal sich Themen auch auf der Basis ihrer Begriffe und Konzepte kritisch sichten lassen (z.B. mit dem Konzept des Marktversagens). Seit einem guten Jahr arbeitet im Denknetz die Fachgruppe Politische Ökonomie, die im Juni 2007 eine erste Arbeitstagung durchgeführt hat. Eine Reihe entsprechender Texte wurde in diese Ausgabe des Jahrbuches aufgenommen. Wir werden diesen inhaltlichen Strang in Zukunft vertiefen und Räume öffnen helfen, damit wieder über Wirtschaftspolitiken gestritten werden kann. Ein anderes Wirtschaften ist möglich – und nötig.

Die Jahrbuch-Redaktion

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Cover

AutorInnen

Saskia Sassen, Eva Nadai, Beat Ringger, VPOD-Verbandskommission Sozialbereich, Ruedi Winkler, Holger Schatz, Vania Alleva, Hans Baumann, Annemarie Sancar, Christiane Schneider, Natalie Imboden, Hannele Häkkinen, Willi Eberle, Hans Schäppi, Oliver Fahrni, Sarah Schilliger, André Mach, Mascha Madörin, Linda Stibler, Urs Mari.

ISBN

Hans Baumann, Beat Ringger, Holger Schatz, Walter Schöni und Bernhard Walpen (Hg): Jahrbuch 2007: Zur politischen Ökonomie der Schweiz. Eine Annäherung.; ISBN (10) 3-85990-116-8, ISBN (12) 978-3-85990-116-2; Verlag: edition 8, Postfach 3522, 8021 Zürich

Rezension

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Rezension von Jan Cremers in CLR News 4/2007

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